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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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NS-Verfolgung im besetzten Europa zu verbinden und darauf hinzuweisen, dass nach den bisherigen Erfahrungen die Verfolgung der Juden immer das Vorspiel zu breiter angelegten Verfolgungsmaßnahmen gewesen sei. Diese Position scheint die britische Propaganda in den folgenden beiden Jahren bestimmt zu haben. 167 Die Ursachen für diese Zurückhaltung der britischen, aber auch der amerikanischen Propaganda in der Berichterstattung über den Mord an den Juden sind vielfältig 168 und können hier nicht im Einzelnen erörtert werden: Man wollte verhindern, dass durch eine zu starke Betonung der jüdischen Tragödie der Eindruck entstand, man beschäftige sich nicht ausreichend mit dem Leiden anderer, durch das NS-Regime unterdrückter Völker; außerdem bestand die Befürchtung, eine massive Propagandakampagne, in der die Einzelheiten und der Gesamtumfang des systematischen Massenmordes enthüllt werden würden, könne als monströs und damit unglaubwürdig wahrgenommen werden, ja im eigenen Land vorhandene antisemitische Einstellungen anheizen. Vor allem aber hatten die britischen Propagandisten mittlerweile einen Positionswechsel vorgenommen: Waren sie im Dezember 1942 noch davon ausgegangen, man könne die deutsche »Kraft durch Furcht«-Strategie argumentativ unterlaufen, fürchteten sie nun doch, durch eine zu breite Darstellung der Verbrechen an den Juden der deutschen Propaganda in die Hände zu spielen.
    Dieselben Überlegungen waren vermutlich ausschlaggebend dafür, dass die Judenverfolgung auch in der alliierten Flugblattpropaganda nur eine untergeordnete Rolle spielte. 1943 produzierte die Royal Air Force insgesamt 106 verschiedene Flugblätter, die zum Abwurf über Deutschland bestimmt waren. 169 Eines der Hauptthemen in diesen Flugblättern waren die deutschen Grausamkeiten in den besetzten Gebieten. Zwei Mal wurde der Massenmord an den Juden ausdrücklich hervorgehoben.
    Auf dem im August 1943 abgeworfenen Flugblatt »Gerechtigkeit« waren Fotos von insgesamt sechs hochrangigen NS-Tätern zu sehen, denen konkrete Mordaktionen zur Last gelegt wurden, davon in drei Fällen die Ermordung von Juden. Der Gouverneur des Distrikts Lublin, Ernst Zörner, wird der Ermordung von 2500 Juden im Ghetto von Lubin beschuldigt, der Gouverneur für den Distrikt Warschau, Ludwig Fischer, der Mitverantwortung für die Ermordung von 250 000 Juden im Warschauer Ghetto im Sommer 1942, und über den Generalgouverneur Hans Frank heißt es: »Gesucht wegen Mordes. Zahl der Opfer bisher nicht vollständig ermittelt, wahrscheinlich höher als 1 Million. Mitverantwortlich für Massenmord an Juden in eigens eingerichteten Ausrottungslagern in Belzec und Treblinka.« 170 In einem anderen Flugblatt mit dem Titel »Die andere Seite«, das zwischen Dezember 1943 und März 1944 abgeworfen wurde, wurde ausführlich der Bericht zweier Augenzeuginnen über eine Massenerschießung von Juden im Generalgouvernement wiedergegeben. 171
    Auch in diesen beiden Flugblättern wurde gleichwohl versucht, die Verbrechen in einen größeren Kontext zu stellen. Das Flugblatt »Gerechtigkeit« befasste sich in seinem Hauptteil mit einem Zitat aus einer Goebbels-Rede des Vorjahres (»Wie im Kampf um die Macht haben wir alle Brücken hinter uns abgebrochen«) und kommentierte diese Aussage wie folgt: »Was steckt hinter dieser zynischen Redensart? Mord! Massenmord in einem Umfang, wie ihn die Kriminalgeschichte bisher nicht kannte. Justizmord, Geiselmord, heimlicher Lustmord im Konzentrationslager, systematischer Massenmord durch Maschinengewehrfeuer, in Gaskammern, durch Starkstrom, durch Ersticken in versiegelten Güterwagen. Ausrottung ganzer Dörfer in der Tschechoslowakei, ganzer Bezirke in Polen, Jugoslawien und Griechenland. Die Zahl der Ermordeten in den besetzten Westgebieten geht in die Tausende, in den besetzten Ostgebieten in die Hunderttausende.« 172
    Das Pamphlet »Die andere Seite« folgte ebenfalls der Linie, die deutschen Verbrechen im Allgemeinen zu verurteilen. Es enthielt beispielsweise einen Artikel von Thomas Mann, dem zufolge die Nationalsozialisten fast eine Million Menschen exekutiert hätten, ohne die Opfer näher zu bestimmen. 173 In dem gleichen Flugblatt war – nicht zum ersten Mal 174 – ein Flugblatt der Weißen Rose wiedergegeben, das allgemein das »furchtbare Blutbad in ganz Europa«, das auf das Schuldkonto der Nazis gehe, anprangerte. Diese beiden Beiträge sollten den Bericht der Augenzeuginnen über den Mord an den Juden

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