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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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über das Schicksal der Juden in Europa geäußert: Der Artikel spreche von einer »Tragödie« und beklage im Zusammenhang mit dem Leiden der Juden »satanische Ideen«. Doch der Völkische Beobachter dementierte diese nur andeutungsweise wiedergegebenen Betrachtungen zur Verfolgung der Juden nicht, sondern ging in die Offensive: Man sei entschlossen, »ein für allemal einen Pestherd zu beseitigen«. Der Begriff der »Tragödie«, so fährt der Artikel fort, enthalte »die Wechselwirkung von Schuld und Sühne«. Die »Entwicklung der Judenfrage in Europa entspricht diesem ehernen Gesetz, dessen umfassende Auswirkungen das Weltjudentum selbst herausgefordert hat, als es die Völker der Erde in den Krieg stürzte […] Es hat sich gründlich verrechnet und muss die Folgen dafür tragen.«
    Man kann solche Beiträge als Teil eines subtilen Diskurses lesen: Gerüchtebildung, Beunruhigung in der Bevölkerung und die Rückfragen verunsicherter lokaler Parteifunktionäre verlangten dem Regime von Zeit zur Zeit Antworten zum Stand der »Judenfrage« ab, die zwar keine Einzelheiten über das Mordprogramm enthüllten, die Gerüchte aber bestätigten. In der gleichen Weise sah sich das Regime kurz darauf gezwungen, auf die alliierte Informationspolitik auch im Inland zu reagieren.
    Ende 1942 hatte man auch außerhalb des vom Deutschen Reich beherrschten Europa allmählich begonnen, die unterschiedlichen Nachrichten über die mörderische Verfolgung der Juden zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen und die Welt zu alarmieren. Die öffentlichen Erklärungen der Alliierten über die systematische Ermordung der Juden durch das NS-Regime von Anfang Dezember 1942 und die darauf folgende weltweite Welle von Presseveröffentlichungen, Radiosendungen, Solidaritätskundgebungen und Verurteilungen, die über alliierte Propagandamittel auch nach Deutschland getragen wurden, stellten für den Propagandisten Goebbels eine besondere Herausforderung dar.
    Die Tatsache, dass die Weltöffentlichkeit die systematische Ermordung der Juden zum ersten Mal in größerem Umfang thematisierte, beunruhigte den Propagandaminister zutiefst; auffallenderweise sah er keine Möglichkeit, das Thema zu dementieren oder zu ignorieren, und entschloss sich daher zu einer propagandistischen Gegenoffensive. Die Tagebücher und die Protokolle der Propagandakonferenzen dokumentieren seine Reaktionen in allen Einzelheiten. Sie zeigen, dass, vor allem als Folge der geballten alliierten Informationspolitik, im Dezember 1942 die Gerüchte um das Schicksal der Juden so weit verbreitet waren, dass die Propaganda diesmal auch im Inland reagieren musste – und sei es mit einer Ablenkungsstrategie.
    Am 5. Dezember 1942 ging Goebbels in seinem Tagebuch erstmals auf weltweite Proteste gegen die »angeblichen Gräueltaten der deutschen Regierung gegen die europäischen Juden« ein; am kommenden Tag äußert er sich negativ zu einem ihm vorgelegten Vorschlag zur »Liquidierung von Judenehen«, da er kontraproduktive Auswirkungen auf die »Stimmung« befürchtete: »Ich halte diese Methode im Augenblick nicht für angebracht. Es wird dadurch in der öffentlichen Meinung wieder so viel Unruhe und Verwirrung angerichtet, dass die Sache sich wenigstens zur Zeit nicht lohnt.« 208
    Die Tagebucheintragung vom 9. Dezember, die wie immer die Ereignisse vom Vortrag widerspiegelt, zeigt, dass Goebbels über die Aufdeckung des Massenmords an den Juden durch die Alliierten weiterhin höchst alarmiert war: »Die Juden machen in der ganzen Welt mobil gegen uns. Sie berichten von furchtbaren Gräueln, die wir uns angeblich in Polen gegen die jüdische Rasse zuschulden kommen ließen, und drohen nun auf dem Wege über London und Washington, alle daran Beteiligten nach dem Kriege einem furchtbaren Strafgericht zuzuführen. Das kann uns nicht daran hindern, die Judenfrage einer radikalen Lösung zuzuführen. Im Übrigen wird es mit dieser Drohung sein Bewenden haben. Die Juden werden wahrscheinlich in Europa niemals mehr etwas Besonderes zu vermelden haben.«
    Diese Tagebucheintragung lässt sich als Kommentar des Ministers zu einer Anweisung lesen, die er am 8. Dezember auf der Propagandakonferenz gegeben hatte: »Unbeschadet dessen, wie weit diese Meldungen den Tatsachen entsprechen, soll auf dieses etwas heikle Thema überhaupt nicht eingegangen werden, da nach Ablauf einer gewissen Zeit diese Polemik des Feindes sowieso wieder verstummen wird.« Entsprechend wurde die Presse noch am gleichen

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