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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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offenbar nicht in erster Linie unterstreichen, sondern die gewünschte Verbindung zu der brutalen nationalsozialistischen Besatzungspolitik in ganz Europa herstellen.
    Von den 32 britischen Flugblättern, die 1944 verbreitet wurden, beschäftigte sich eines mit dem Terror der deutschen Besatzungsbehörden in verschiedenen europäischen Ländern, erwähnt jedoch nur an einer Stelle die »Verfolgung und Ausrottung der Juden«, ohne dieses Thema weiter zu vertiefen. 175 Im April 1944 wurde in der Luftpost , einer britischen Flugblattzeitung, eine Warnung Präsident Roosevelts abgedruckt, in dem dieser in deutlichen Worten »die massenweise systematische Abschlachtung der Juden in Europa« geißelte, sie entsprechend der alliierten Propagandarichtlinie jedoch umgehend mit NS-Verbrechen an anderen europäischen Völkern in Zusammenhang brachte. 176 Eine Luftpost -Ausgabe vom September 1944 machte unter anderem das KZ Lublin als Stätte zur »Massenvernichtung von Juden und politischen Häftlingen« mit Hilfe von Gas öffentlich. 177
    Die amerikanische Luftwaffe warf seit Sommer 1943 eigene Flugblätter über Deutschland ab. Von den insgesamt 42 bis Ende 1944 produzierten amerikanischen Flugblättern behandelten drei den Mord an den Juden: Im April 1944 wurde in der Flugblattzeitung Sternenbanner die erwähnte »Warnung« Präsident Roosevelts thematisiert; 178 ein etwas ausführlicherer Text dieser Erklärung folgte noch im April als eigenes Flugblatt; 179 im August 1944 machte das Sternenbanner die grauenhaften Entdeckungen publik, die die Sowjets bei der Befreiung von Lublin im Vernichtungslager Majdanek gemacht hatten. 180 Die weit über zweihundert seit Ende 1944 gemeinsam von der britischen und amerikanischen Propaganda produzierten und über Deutschland abgeworfenen Flugblätter sowie die britisch-amerikanische Flugblattzeitung Nachrichten für die Truppe gingen, das sei noch hinzugefügt, auf den Massenmord an den Juden nicht mehr ein. 181
    Von einer herausragenden Rolle des Massenmords an den europäischen Juden in der alliierten Flugblattpropaganda kann also keine Rede sein. Die Ermordung von Hunderttausenden, ja mehr als einer Million Juden wird zwar mehrere Male beschrieben, aber insgesamt gesehen konnte der durchschnittliche Leser diesen Flugblättern nicht entnehmen, dass sich der Mord an den Juden quantitativ oder qualitativ wesentlich von den Grausamkeiten an anderen unterdrückten Bevölkerungsgruppen unterschied, dass also die NS-Regierung das Ziel verfolgte, alle Juden in ihrem Herrschaftsgebiet mit Hilfe besonderer Mordanlagen systematisch umzubringen. Auffällig ist auch, dass die zentrale Rolle der Gaskammern nicht besonders hervorgehoben wurde. Aber wesentlich ist vor allem folgender Punkt: Nach intensiver alliierter Berichterstattung im Dezember 1942 trat das Thema Judenmord in den nächsten beiden Jahren in der alliierten Propaganda wieder in den Hintergrund. Wir wissen wenig über die Lese- und Rezeptionsgewohnheiten derjenigen Deutschen, die – verbotenerweise – alliierte Rundfunkstationen abhörten und Flugblätter der Kriegsgegner lasen, aber man muss wohl eher davon ausgehen, dass diejenigen, denen es gelang, einen Blick auf ein feindliches Flugblatt zu werfen, ihnen bestenfalls ein kleines Stück Information über den Massenmord an den Juden entnehmen konnten: eine Opferzahl, den Namen eines Lagers, die Erwähnung von Todeslagern und Gaskammern, den Erlebnisbericht eines entkommenen Opfers. Die Tatsache, dass diese bruchstückhaften Informationen meist in einen allgemeinen Kontext der von den Deutschen in den besetzten Gebieten begangenen Grausamkeiten eingebettet waren – mit Ausnahme des Flugblatts vom Dezember 1942, in dem der seinerzeitige Informationsstand über den Judenmord zusammenhängend präsentiert und entsprechend gewürdigt wurde -, mag mit dafür verantwortlich sein, dass, wie die Amerikaner unmittelbar nach Kriegsende herausfanden, die alliierte Flugblattpropaganda über den Mord an den Juden in der deutschen Bevölkerung offenbar kaum Spuren hinterließ. 182
    Das Gleiche gilt für das Abhören der »Feindsender«: Der Mord an den Juden wurde offenkundig nur im Dezember 1942 wiederholt und an herausragender Stelle in den alliierten Rundfunksendungen angesprochen, danach (mit Ausnahme des Frühjahrs und Frühsommers 1944) eher sporadisch und ebenfalls im Kontext anderer NS-Verbrechen. Da von etwa 50 Prozent »Schwarzhörern« in der deutschen Bevölkerung nur ein relativ

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