Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
Vom Netzwerk:
Menschen durch Angst und äußere Anpassung erzwungen? Klemperer berichtet, dass seine Leidensgenossen, eine Gruppe jüdischer Männer, die zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden, immer wieder lebhaft darüber diskutierten. Dabei wurden die unterschiedlichsten Standpunkte vertreten; Klemperer selbst bestreitet bei diesen Diskussionen, dass die Deutschen schlechthin antisemitisch seien. 202 Eine zuverlässige Beobachtungsmethode, mit der sich das Ausmaß des Antisemitismus messen ließe, kann er jedoch nicht entwickeln: »Vox populi zerfällt in zahllose voces populi … Ich frage mich oft, wo der wilde Antisemitismus steckt. Für meinen Teil begegne ich viel Sympathie, man hilft mir aus, aber natürlich angstvoll.« 203
    Das Verhalten ist, so seine Beobachtung, häufig situationsabhängig: Freundliche Bemerkungen werden in privaten Gesprächen gemacht, Mitglieder einer Gruppe verhalten sich vorsichtiger. Das Verhalten der Menschen stand offenkundig im Zusammenhang mit den antisemitischen Hetzkampagnen, die wellenförmig über das »Dritte Reich« hinwegschwappten, und war nicht zuletzt von der Angst um den Kriegsausgang geprägt. Klemperer fällt, wie bereits erwähnt, auch auf, dass er als »Sternträger« deshalb so viele regimekritische Äußerungen zu hören bekommt, weil in ihm niemand einen Spitzel vermutet – wie etwa der Äußerung eines Straßenbahnfahrers zu entnehmen ist: »Ganz gut, Ihr Zeichen, da weiß man, wen man vor sich hat, da kann man sich mal aussprechen.« 204
    Wer sich mit der Frage nach dem Alltagsverhalten der deutschen Bevölkerung gegenüber den Juden während des Zweiten Weltkrieges befasst, wird auch nicht übersehen können, dass mehrere Tausend in den Untergrund abgetauchte Juden nur durch Unterstützung aus der deutschen Bevölkerung überleben konnten (auch wenn nicht immer Mitgefühl und Solidarität dafür verantwortlich waren, sondern in vielen Fällen handfeste materielle Interessen). 205 Aber diese im Untergrund lebenden Juden mussten permanent Denunziation und Verrat fürchten: Die Verfolgung konnte in der Praxis eben nur funktionieren, weil die personell relativ schwach besetzten Behörden aus der Bevölkerung heraus mit Informationen versorgt und unterstützt wurden. Die absoluten Zahlen der nachgewiesenen Denunziationen von Juden sind allerdings zu gering, um die deutsche Bevölkerung pauschal zu einem Volk von Denunzianten abzustempeln. 206
    Man könnte also den zahlreichen Beispielen von Hilfsbereitschaft und aktiver Überlebenshilfe für Juden eine lange Liste von Einzelfällen gegenüberstellen, in denen »normale« Deutsche Juden feindselig gegenübertraten, sie denunzierten und unmenschlich behandelten. Bei dem Versuch, durch eine umfassende Zusammenstellung subjektiver Eindrücke aus zeitgenössischen Berichten oder aus der Memoirenliteratur so etwas wie ein Gesamtbild über den Stand des Antisemitismus im Deutschland der Kriegszeit zu zeichnen, wird man jedoch immer zu widersprüchlichen Ergebnissen kommen: Die Vorstellung, dass in solchen kleinen Alltagsgesten eine bestimmte Grundhaltung der Bevölkerung zum Ausdruck kommt, führt methodisch in eine Sackgasse.
    Denn solche positiven wie negativen Gesten und Verhaltensweisen betreffen jeweils nur einen relativ kleinen Teil der Bevölkerung, sie schildern Abweichungen vom Normalverhalten – und das bestand für die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung offensichtlich darin, die Anweisungen des Regimes letztlich zu befolgen und Distanz zu Juden zu halten, so dass diese während des Krieges in nahezu völliger Isolation lebten. Die Mehrheit der Bevölkerung verhielt sich demnach in der Öffentlichkeit gegenüber Juden so, wie das Regime es forderte: distanziert und indifferent. Freundlichkeiten, Gesten der Solidarität und Hilfe einerseits, offene Anpöbeleien, Akte der Unmenschlichkeit und Denunziationen andererseits erschienen den Zeitgenossen vor allem deshalb als so bemerkenswert, weil sie als untypische Verhaltensweisen hervorstachen.
    Auffällig ist, dass viele Beobachter in den Jahren 1942 bis 1944 eine wesentlich größere Distanz der deutschen Bevölkerung gegenüber den Juden registrierten als noch im Herbst 1941, als die Einführung des Sterns offensichtlich in größerem Umfang Gesten der Sympathie und Solidarität ausgelöst hatte. Doch auch daraus lässt sich nicht einfach auf eine zwischenzeitlich eingetretene Verhärtung der allgemeinen Einstellung zu den Juden schließen: Denn das Regime hatte seit

Weitere Kostenlose Bücher