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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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kleiner Bevölkerungsteil die alliierten Rundfunksender regelmäßig abhörte und die Hörerschaft sich gegenüber Informationen, die sie nicht unmittelbar betrafen, als einigermaßen resistent erwies, 183 wird man davon ausgehen können, dass auch die meisten »Schwarzhörer« Informationen über den systematischen Mord an den Juden nur bruchstückhaft erfassten.

Distanz, Sympathie, Feindseligkeit: Zum Alltagsverhalten der deutschen Bevölkerung gegenüber Juden
    David Bankier führt in seiner Studie zur Reaktion der Deutschen auf die Judenverfolgung zahlreiche, glaubwürdig dokumentierte Einzelfälle an, in denen Deutsche Scham und Schuldgefühle angesichts der Verfolgung empfanden, Juden gegenüber Mitgefühl zum Ausdruck brachten und versuchten, ihnen auf verschiedene Weise zu helfen. Dies sind seiner Ansicht nach wichtige Hinweise darauf, dass die Bevölkerung insgesamt keineswegs gleichgültig hinsichtlich des Schicksals der Juden war, sondern auf – mehr oder weniger präzise – Informationen und Gerüchte durchaus reagierte. 184
    Sieht man sich die vom britischen Foreign Office in den Jahren 1942 bis 1944 gesammelten Informationen über das Alltagsverhalten der deutschen Bevölkerung gegenüber den Juden an, so erhält man einen zwiespältigen Eindruck. In einem Bericht derNachrichtensammelstelle in der britischen Vertretung in Stockholm vom 7. Juli 1942 heißt es beispielsweise, dass es niemand wage, den im Allgemeinen sehr schlecht ernährten Juden zu helfen oder ihnen einen freundlichen Blick zuzuwerfen. Über das Verhalten der Bevölkerung zu Juden in der Straßenbahn kann man hier lesen: »Sie [die Juden] werden während der Fahrt nicht zum Opfer irgendwelcher Demütigungen, weil die Bevölkerung für so etwas zu ausgelaugt und gleichgültig ist.« 185
    Zwei Monate später schilderte die gleiche Nachrichtensammelstelle in Stockholm eine Szene aus der Berliner U-Bahn: Ein junges Mädchen habe eine alte jüdische Frau aufgefordert, ihren Platz für sie freizugeben: »Die Dame stand auf, und niemand schenkte dieser Episode Beachtung.« Es komme jedoch auch vor, dass Passagiere ihre Plätze für Juden freimachten. Im Allgemeinen sei die Passivität der Menschen »entmutigend«. 186
    Im Mai und Juni 1943 berichtete die britische Nachrichtensammelstelle in Stockholm auf Grund von Gesprächen mit österreichischen Schweden-Besuchern, viele Landsleute, darunter auch Nationalsozialisten, wendeten sich wegen der Judenverfolgung vom Regime ab. 187 Ein deutscher Journalist wusste im Juni 1943 anlässlich eines Stockholm-Aufenthaltes zu berichten, die Menschen verhielten sich gegenüber der »Judenfrage« apathisch, hätten aber gleichzeitig ein beträchtliches Maß an Sympathien für die Juden. Der Journalist machte diese Haltung der Bevölkerung dafür verantwortlich, dass das Regime die letzte größere Deportation Ende April 1943 nicht publik gemacht habe. 188
    Ein SS-Mann, der sich im Frühjahr 1943 zu einem Besuch bei Verwandten in Stockholm aufhielt, äußerte im Kreise seiner Angehörigen, in Deutschland spiele die »Judenfrage« keine große Rolle, im Vordergrund stehe die Angst vor der Niederlage. 189 Praktisch niemand, so berichtete ein aus Deutschland zurückgekehrter schwedischer Arbeiter im September 1943, reagiere noch auf die antisemitische Propaganda. 190
    Im April 1944 übersandte der britische Botschafter in Madrid, Hoare, den ausführlichen Report eines spanischen Journalisten, der zwei Jahre Korrespondent in Berlin gewesen war, an Außenminister Eden. In dem Bericht heißt es: »Mitleid hat den Hass neutralisiert, so dass die Deutschen heute, wenn sie sich auch nicht auf die Seite der Juden schlagen – denn man darf nicht vergessen, dass der Jude in Deutschland, was auch geschieht, unbeliebt ist und es bleiben wird -, ihnen nicht ausgesprochen feindlich gegenüberstehen. Die Entwicklung der Deutschen läuft heute dahin, dass sie es zwar für einen großen Vorteil hielten, wenn die Juden ganz allgemein wie durch ein Wunder plötzlich verschwinden würden, aber um das zu erreichen, würden sie keinen Finger rühren.« Die Bevölkerung gehe mehr oder weniger davon aus, dass die aus Deutschland deportierten Juden liquidiert worden seien. »Aus diesem Grund haben die Partei und vor allem ihr bewaffneter Arm, die SS-Männer, in der öffentlichen Wahrnehmung eine unheimliche Seite. Obendrein haben die SS-Männer die Nazi-Doktrin ins Extrem übersteigert. Sie sind noch schlimmer als Atheisten.«

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