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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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durchgesetzt.
    Im Herbst 1938 sollte der seit Jahren vorangetriebene Prozess der Ausgliederung der Juden aus der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft durch den inszenierten Pogrom zum Abschluss gebracht werden. Es galt, die Bevölkerung in den Pogrom einzubeziehen, wenn schon nicht als aktive Teilnehmer, dann zumindest als Zuschauer, die die Gewaltorgie aus nächster Nähe miterlebten und schwerste Rechtsbrüche hinnahmen – ein Verhalten, das die Propaganda dann relativ leicht als Genugtuung und Zustimmung zu den »Vergeltungsaktionen« auslegen konnte. Anschließend – so das Hauptziel der nach dem Pogrom gestarteten Propagandakampagne – sollte die Bevölkerung die Isolation der Juden durch ein möglichst distanziertes Verhalten im Alltag sanktionieren.
    Im Herbst 1941 wurde schließlich zusammen mit der Einführung des Gelben Sterns ein totales Kontaktverbot zu jüdischen Bürgern verhängt. Die Bevölkerung wurde angehalten, etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln und Geschäften gegenüber Juden auf allgemein übliche Umgangsformen zu verzichten, um die noch in Deutschland lebenden Juden für alle sichtbar als »inneren Feind« zu brandmarken.
    Im Frühjahr 1943 wurde die Mobilisierung der Bevölkerung für den Totalen Krieg damit begründet, in dem behaupteten »Rassenkrieg« gegen die Juden gebe es nur für den Sieger ein Überleben. Die unterlegene Seite werde zwangsläufig »vernichtet«. Das Regime versuchte damit, allerdings nur für etwa acht Wochen, die Kriegsanstrengungen im Zeichen des Totalen Krieges zum Plebiszit über die »Endlösung der Judenfrage« zu machen, über deren mörderischen Charakter kein Zweifel gelassen wurde.
    In all diesen Phasen war die Propaganda, wie wir bei den einzelnen antisemitischen Kampagnen sehen konnten, eng mit Gewaltanwendung und Repression beziehungsweise mit gesetzlicher Reglementierung verbunden. Es ging also nicht darum, die Menschen von der antisemitischen Politik zu überzeugen oder sie mit Hilfe einer geschickten Propaganda zu verführen – vielmehr führte man ihnen die vermeintliche Unausweichlichkeit antisemitischer Maßnahmen vor Augen und forderte von ihnen, ihr Verhalten in der Öffentlichkeit entsprechend darauf einzustellen.
    Wie reagierten die Menschen auf diesen Erziehungsprozess?

Aussagekraft der Stimmungsberichte
    Die wichtigste Quelle für die Beantwortung dieser Frage sind die offiziellen Stimmungsberichte des Regimes. Die Interpretation der darin enthaltenen Einschätzungen über das Verhalten der Bevölkerung erfordert indes eine besonders sorgfältige Quellenkritik, da die Stimmungsberichte, wie in der Einleitung bereits ausgeführt, nicht einmal ansatzweise die Funktion einer demoskopischen Beobachtung der »wahren« Volksstimmung erfüllten.
    Die Berichte erfassten nicht die »öffentliche Meinung« (die sich in der Diktatur nicht konstituieren konnte), sondern waren an der Formierung einer künstlich hergestellten Öffentlichkeit unter den Bedingungen der Diktatur mit beteiligt. Sie sind deshalb nicht als Forum für unterschiedliche Auffassungen, sondern als Resonanzboden zu betrachten, mit dessen Hilfe Zustimmung dokumentiert und die Propaganda des Regimes verstärkt werden sollte. In diesem Rahmen hatte die Stimmungsberichterstattung vor allem die Aufgabe zu dokumentieren, dass die Bevölkerung in ihrem Alltagsverhalten ihre Zustimmung zur Politik des Regimes zum Ausdruck brachte. Entsprechend beobachtete das Regime bei jeder neuen Radikalisierung der »Judenpolitik« aufmerksam, ob die Menschen ihr alltägliches Verhalten auf die jeweils neue Phase der Verfolgung einstellten.
    Aus diesem Grund lieferte die Stimmungsberichterstattung vorwiegend in den Phasen intensiver antisemitischer Propaganda umfangreiches Material, nicht jedoch in den Zwischenphasen, in denen hinsichtlich der Judenverfolgung relative Ruhe herrschte. Die Berichterstattung konzentrierte sich darauf, die äußerlich wahrnehmbare Reaktion der Bevölkerung auf antijüdische Kampagnen und auf konkrete, unübersehbare Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung aufzuzeichnen; sie wurden nicht mit der Absicht verfasst, so etwas wie eine »Grundeinstellung« über einen längeren Zeitraum zu verfolgen.
    Wegen dieser Eigenart der Berichterstattung kann aus der Abwesenheit von Reaktionen auf die Verfolgung in bestimmten Phasen nicht auf »Indifferenz« der Bevölkerung geschlossen werden. Dokumentiert wird dadurch vielmehr, dass der staatliche Propagandaapparat in bestimmten

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