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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Phasen kein Interesse daran hatte, diesen Themenkomplex aufzuwerfen und seiner Erörterung in der internen Berichterstattung eine Plattform zu bieten.
    Die offiziellen Stimmungsberichte spiegeln daher in erster Linie die diskursiven Mechanismen unter dem NS-Regime wider: Sie wirkten mit an der Etablierung einer »master narrative«, einer »herrschenden Erzählung«, die alternative Diskurse nicht zulassen konnte. Diese Funktion der Berichte erklärt eine Reihe von Eigentümlichkeiten der Berichterstattung, auf die bereits in der Einleitung eingegangen wurde: So wurde das Volk grundsätzlich immer als eine homogene Größe angesehen, der Nationalsozialismus galt als Ausdruck eines einheitlichen Volkswillens – in grundsätzlichen Fragen konnte also gar keine Diskrepanz zwischen Regime und Volk entstehen. Damit betraut, vor allem die Zustimmung der Bevölkerung zur Politik des Regimes zu dokumentieren, neigten die Berichterstatter dazu, oppositionelle Strömungen grundsätzlich als Ausnahmeerscheinung darzustellen, als eigentlich überwundene Denkweise. Hinzu kam, dass die Berichterstatter die Wirklichkeit des »Dritten Reiches« von einer ideologisch bestimmten Grundposition aus wahrnahmen: Sie benutzten in ihren Berichten im Allgemeinen die gleichen gedanklichen Grundfiguren und Sprachmuster, die auch in den offiziellen Verlautbarungen verwendet wurden.
    Die Berichte hatten demnach mit einer Art Feldforschung, bei der negative Äußerungen sorgsam beobachtet und evaluiert werden, nichts zu tun. Sie fungierten stattdessen als Warnsystem, um etwaige negative Reaktionen auf die Politik aufzuspüren, damit solche unerwünschten Erscheinungen mit Hilfe von Propaganda und Repression wieder zum Verschwinden gebracht werden konnten.
    Schließlich sind die Eigeninteressen zu beachten, die die verschiedenen Stellen im Zuge der Berichterstattung verfolgten. Da eine öffentliche Meinungsbildung nicht stattfand, stellten die Berichte für die Staats- und Parteibürokratie eine Möglichkeit dar, unter dem Rubrum »Volksstimmung« innerhalb bestimmter Grenzen auch Maßnahmen des Regimes zu kritisieren und politische Auffassungen auszutauschen.
    Die Berichte als Abbild einer im Verborgenen existierenden »wirklichen« öffentlichen Meinung zu lesen, wäre also grundfalsch. Festzuhalten ist vielmehr, dass die kollektive Meinungsbildung, das heißt der Prozess, in dem unterschiedliche Einzelstimmen auf einen generellen Nenner gebracht werden, ganz wesentlich im Rahmen der offiziellen Stimmungsberichterstattung stattfand. Die Stimmungsberichte sind, das sei noch einmal betont, ein formatives Element einer künstlich hergestellten, offiziellen öffentlichen Meinung.

Gab es unter der Diktatur eine vorherrschende »Volksmeinung«?
    Wenn es aber, so die weitere Überlegung, unter den Bedingungen der NS-Diktatur keine diskursiven Mechanismen für eine unabhängige Meinungsbildung und für die Konstituierung einer »öffentlichen Meinung« gab, dann stellt sich die Frage, ob man überhaupt sinnvollerweise von der Existenz einer einheitlichen oder dominierenden »Volksmeinung« oder einer mehrheitlichen »Einstellung« der Bevölkerung ausgehen kann. Auch wenn es in Grenzen möglich war, politische Auffassungen im privaten Bereich auszutauschen, fehlte diesen Diskussionen doch das entscheidende Element, das die Konstituierung eines alternativen Diskurses erst ermöglicht hätte: Öffentlichkeit.
    Außerhalb der Privatsphäre konnten sich kollektive, vom offiziellen Kurs abweichende Meinungen nur ansatzweise innerhalb von Milieus oder Milieuresten etablieren, die noch nicht von den Nationalsozialisten zerstört waren und in denen noch halbwegs intakte moralische Referenzsysteme bestanden: Zu denken ist etwa an die kirchlich gebundene Bevölkerung, an bürgerliche Kreise oder an die Reste des sozialistischen Milieus. Allerdings zeichneten sich diese in der Halböffentlichkeit nachweisbaren abweichenden Meinungen dadurch aus, dass sie die Judenverfolgung in traditionelle, aus der Zeit vor 1933 stammende Erklärungsmuster einordneten; den präzedenzlosen Charakter der NS-Judenverfolgung konnten sie daher nur unzureichend erfassen. Die Grundlage für die Herstellung eines alternativen Diskurses, der mit der Radikalisierung der nationalsozialistischen »Judenpolitik« hätte Schritt halten können, war damit nicht gegeben.
    Es scheint demnach relativ sinnlos zu sein, durch die offenkundigen Verzerrungen der Berichterstattung hindurch zu so etwas

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