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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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der »Ausschaltung« der Juden aus sämtlichen Lebensbereichen ihre eigene Machtbasis Schritt für Schritt ausbaute. Antijüdische Propaganda war daher auch ein Indikator für die innenpolitische Machterweiterung der nationalsozialistischen Bewegung, die mit einer allgemeinen Radikalisierung des Regimes einherging.
    Nach Kriegsausbruch spielte die antisemitische Propaganda zunächst keine wesentliche Rolle; seit Mitte 1941 erhob das Regime die »Judenfrage« jedoch zur zentralen Frage des Krieges. Seit dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion im Juni 1941 vermittelte das Regime der Bevölkerung die Botschaft, der Kampf gegen das »bolschewistisch-jüdische System« sei für das deutsche Volk eine Existenzfrage. Um dieses Ziel in vollem Umfang zu erreichen, müsse auch der jüdische »Feind« im Innern isoliert und schließlich gewaltsam ausgeschaltet werden. Die Kennzeichnung der Juden im September 1941 sollte dazu die Voraussetzung schaffen.
    Noch im Sommer 1941 machte sich das Regime daran, die Bevölkerung angesichts des immer kritischer werdenden Verhältnisses zu den USA auf die Ausweitung des Krieges zum Weltkrieg vorzubereiten: Dieser große Krieg, so die These der Propaganda, werde dem Reich durch eine »jüdische Weltverschwörung« aufgezwungen.
    Während dieses Sujet unmittelbar nach dem Kriegseintritt der USA (und parallel zur Ausweitung der Massenmorde auf ganz Europa) in der ersten Jahreshälfte 1942 weniger stark strapaziert wurde, stellte die Propaganda in der zweiten Jahreshälfte 1942 die Parole vom Kampf gegen die jüdische Weltverschwörung mehr und mehr in den Vordergrund. Wieder ging es angeblich um eine existentielle Auseinandersetzung: »Sieg oder Untergang«, lautete die Parole. Im Frühjahr und Frühsommer 1943 wurde diese Kampagne noch einmal erheblich intensiviert, seit Mitte 1943 jedoch wieder zurückgefahren. Auch während des Krieges war die antisemitische Propaganda also ein wichtiger Indikator für die Radikalisierung des Regimes.
    Für den gesamten Zeitraum 1933 bis 1945 gilt, dass illegale antisemitische Aktionen und die Anwendung physischer Gewalt gegen Juden in der Propaganda nicht oder nur andeutungsweise stattfanden. So wurden die gewalttätigen Ausschreitungen während des Boykotts 1933 verschwiegen, die antisemitischen Übergriffe von 1935 verharmlost, das wahre Ausmaß der »Reichskristallnacht« verheimlicht; die Deportationen aus Deutschland kamen in der Propaganda nicht vor, und der systematische Massenmord an den Juden wurde mit Begriffen wie Vernichtung und Ausrottung umschrieben, ohne dass Einzelheiten des Mordprogramms preisgegeben wurden.
    Doch schon die eindeutigen Aussagen während der Katyn-Kampagne über die Ermordung der Juden machen deutlich, dass das von vielen deutschen Zeitgenossen im Nachhinein behauptete vollkommene Unwissen – mit dem Beigeschmack unschuldiger Ahnungslosigkeit – in Bezug auf die »Endlösung« entweder als leicht durchschaubarer Verteidigungsmechanismus zu betrachten ist oder als Hinweis darauf, dass Menschen einen beträchtlichen Teilaspekt nationalsozialistischer Politik konsequent ignorierten. Denn die »Judenpolitik« nahm immer dann, wenn das Regime die Verfolgung radikalisierte, in der Darstellung des Regimes einen herausragenden Platz ein, und das Regime wurde nicht müde, die Zentralität der Judenverfolgung für die Durchsetzung seiner Politik offensiv und öffentlich zu betonen.

Propaganda und Ausrichtung der nationalsozialistischen »Öffentlichkeit«
    Die Propaganda war aber nur ein Element in einem weit umfassenderen Prozess, der darauf zielte, die nationalsozialistisch dirigierte Öffentlichkeit mit Hilfe der »Judenfrage« mehrfach neu auszurichten. Das Regime versuchte dabei, durch »Erziehung« auf verschiedenen Ebenen das öffentlich wahrnehmbare Verhalten der Bevölkerung an die jeweils neue Phase der »Judenpolitik« anzupassen.
    1933 ging es zunächst darum, unter der Parole des »Boykotts« das Einkaufen in jüdischen Geschäften und die Inanspruchnahme von Juden angebotener Dienstleistungen zu unterbinden. Da dies nicht gelang, bildete die Aufforderung zum Boykott bis 1938 eines der Dauerthemen bei den Bemühungen des Regimes, das Verhalten der Bevölkerung mit der offiziellen Politik in Einklang zu bringen.
    1935 wurde mit Hilfe des immer lauter öffentlich erhobenen »Rassenschande«-Vorwurfs und schließlich durch die Nürnberger Gesetze die biologische Segregation der Juden von der übrigen Bevölkerung

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