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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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wie einer »wahren« Volksmeinung vorstoßen zu wollen. Dass das Volk ohne Vorhandensein entsprechender Kommunikationskanäle kollektiv, sozusagen aus sich selbst heraus, mehr oder weniger einheitliche Stimmungen und Meinungsbilder hervorbringen könne, ist ein Mythos, der nicht zuletzt durch die nationalsozialistische Volksgemeinschaftsideologie befördert wurde. Was wir in den Berichten finden können, ist die von den Berichterstattern aus ihrem Blickwinkel vorgenommene Kompilation von Einzelstimmen, die sich vorzugsweise im Rahmen von traditionellen, milieutypischen Auffassungen bewegten.

Die Ausrichtung der nationalsozialistischen Öffentlichkeit und ihre Grenzen
    Angesichts der primären Aufgabenstellung der Stimmungsberichterstattung, an der möglichst einheitlichen Ausrichtung der Öffentlichkeit mitzuwirken, verdienen jedoch solche Berichte besondere Aufmerksamkeit, in denen die Auswirkungen staatlicher Maßnahmen und Propaganda übereinstimmend und/oder über einen längeren Zeitraum als negativ beschrieben wurden; dies gilt vor allem dann, wenn sich solche negativen Tendenzen durch andere Zeugnisse bestätigen lassen. In diesen Fällen ließ sich also Kritik oder Ablehnung der antisemitischen Politik offensichtlich nicht herunterspielen oder schnell und wirksam bekämpfen. Die Ausrichtung der Öffentlichkeit durch das Regime stieß offensichtlich an ihre Grenzen.
    Dabei ist stets das Problem im Auge zu behalten, ob und aus welchen Gründen die berichterstattenden Behörden ein eigenes Interesse daran haben mochten, negative Reaktionen der Bevölkerung auf die »Judenpolitik« besonders herauszustellen. Wir können jedoch diesen Verzerrungsfaktor dadurch eingrenzen, dass wir das Berichtsmaterial untereinander und mit anderen Quellengruppen vergleichen und außerdem den Aufbau und Verlauf der Propagandakampagnen sorgfältig in die Analyse mit einbeziehen. Denn das Auf und Ab der antisemitischen Propaganda und die Art und Weise, in der offenkundig erfolglose Propaganda durch repressive Maßnahmen unterstützt wurde, lassen darauf schließen, wie der Propagandaapparat selbst die Einstellung der Bevölkerung zur »Judenpolitik« einschätzte – eine Einschätzung, die umso bedeutungsvoller ist, als sie in erster Linie auf internem, verloren gegangenem Material des Goebbels-Ministeriums beruhte. Das aber hatte keinerlei Interesse daran, die Reaktion der Bevölkerung auf die Propaganda als besonders negativ darzustellen.
    Während des gesamten Zeitraums von 1933 bis 1945 zeigt sich in den Stimmungsberichten und in anderen Quellen, dass die NS-»Judenpolitik« in der Bevölkerung ein erhebliches Maß an Verständnislosigkeit, Skepsis und Kritik zu überwinden hatte. Große Teile der Bevölkerung waren offenbar nicht ohne weiteres bereit, durch ihr Alltagsverhalten Zustimmung zur antisemitischen Politik und Propaganda zu signalisieren. Solche negativen Reaktionen äußerten sich allerdings auf disparate Weise. Eine geschlossene, politisch und moralisch fundierte Gegenbewegung konnte sich unter den herrschenden Bedingungen nicht formieren.
    Am ehesten kann man diese unbestimmten negativen Reaktionen, die mangels alternativer kollektiver Meinungsbildung unterhalb der Ebene des Protests oder gar des Widerstandes blieben, wohl mit dem Begriff des »Unwillens« erfassen. Dieser Unwille, die Weigerung, sein Verhalten in der »Judenfrage« an die vom Regime verordneten Normen anzupassen, war die einfachste und risikoloseste Form für die Masse der Bevölkerung, abweichende Einstellungen zur »Judenpolitik« zum Ausdruck zu bringen; auf solche Verhaltensweisen konnte man sich auch ohne verbale Kommunikation im Alltag relativ leicht verständigen. Zugleich ließen sich solche öffentlichen Äußerungen des Unwillens – im Gegensatz zur »wahren Einstellung« der Bevölkerung – verhältnismäßig zuverlässig erfassen. Aus heutiger Sicht kann man ihnen daher am ehesten Glauben schenken. Bei der Analyse der Reaktion der Deutschen auf die Judenverfolgung konzentrieren wir uns daher auf die Momente, in denen die Bemühungen des Regimes zur antisemitischen Ausrichtung der Öffentlichkeit deutlich auf Schwierigkeiten stießen.
    Überblickt man den gesamten Zeitraum der NS-Diktatur, wird ein deutlicher Trend erkennbar: Der Unwille der Bevölkerung, ihr Verhalten zur »Judenfrage« entsprechend den vom Regime verordneten Normen auszurichten, wuchs, je radikaler die Verfolgung wurde. Das Regime war jedoch entschlossen, sich bei

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