"Davon haben wir nichts gewusst!"
auch durch eine Revision oder Modifikation der entsprechenden, auf Kritik stoßenden Politik (das NS-Regime sah sich zu solchen Änderungen etwa im Zuge des so genannten Kirchenkampfes 1936/37 oder bei der Durchführung der »Euthanasie« 1941 gezwungen).
Die Einbeziehung der Propaganda in unsere Untersuchung erlaubt daher einen genaueren Blick auf den Zusammenhang zwischen der »Ausrichtung« der Öffentlichkeit und der – vor allem in diesem Kontext berichteten – »Stimmung«. Die Bevölkerung wurde in groß angelegten Kampagnen, die in Wellen aufeinander folgten, dazu gebracht, die »Judenpolitik« des Regimes zu akzeptieren: Das heißt, dass die schrittweise Radikalisierung der Verfolgung offenbar gegen die Opposition bestimmter Bevölkerungskreise durchgesetzt beziehungsweise dass die Opposition gegen solche Maßnahmen zum Schweigen gebracht wurde.
Denn eines lässt sich schon jetzt festhalten: Hätte es von Anfang einen breiten radikal-antisemitischen Konsens in der deutschen Bevölkerung gegeben, der darauf hinauslief, die Juden in irgendeiner Form loszuwerden, oder hätte das Volk durch seine Indifferenz gegenüber der Judenverfolgung von vornherein seine Zustimmung zu diesen Maßnahmen signalisiert, wären nicht immer wieder diese groß angelegten Kampagnen notwendig gewesen, mit denen die äußere Zustimmung der »Öffentlichkeit« zur »Judenpolitik« dokumentiert wurde. Die nachhaltigen Anstrengungen des Regimes, die »Öffentlichkeit« im Hinblick auf seine »Judenpolitik« immer wieder neu auszurichten, sind das Thema dieses Buches; dieser umfassende Formierungsprozess und die Hemmungen und Widerstände, auf die er traf, enthalten das Material, das uns in die Lage versetzt, die Frage nach der Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die Judenverfolgung und die Frage nach dem Wissen über die »Endlösung« näher zu beantworten.
Boykott: Die Verfolgung beginnt
Judenverfolgung und Propaganda in der Vorkriegszeit: Einige Vorbemerkungen
Angesichts des zentralen Stellenwerts, den die Judenverfolgung in der Geschichte des Nationalsozialismus zweifelsohne besaß, liegt die Vorstellung nahe, die deutsche Bevölkerung sei von 1933 bis 1945 durch die vom Regime kontrollierten Medien mit einem Dauerfeuer antisemitischer Propaganda belegt worden. Ein genauer Blick auf die Quellen ergibt jedoch ein anderes Bild.
Sicher spielte das Thema Antisemitismus in der NS-Propaganda eine wichtige Rolle; dennoch war es jedoch keineswegs immer und in allen Medien als das alles überstrahlende Thema präsent. Obwohl dem Antisemitismus in der so genannten nationalsozialistischen Weltanschauung eine Schlüsselfunktion zukam und führende Nationalsozialisten sich von einer Lösung der »Judenfrage« geradezu paradiesische Zustände versprachen, kann man nicht behaupten, dass die NS-Propaganda insgesamt einen solchen »Erlösungsantisemitismus« konsequent und kontinuierlich als ihr zentrales Thema behandelt hätte.
Vielmehr zeigt sich, dass Antisemitismus je nach Zeitpunkt in höchst unterschiedlichem Umfang in der nationalsozialistisch dirigierten Öffentlichkeit thematisiert wurde und dass die einzelnen Medien (wie wir vor allem anhand verschiedener Zeitungen sehen werden) dabei höchst unterschiedliche Funktionen erfüllten.
Beginnen wir mit der Presse: In den vom Propagandaministerium herausgegebenen Presseanweisungen, die in einer vielbändigen Edition dokumentiert sind, spielten antisemitische Themen zwischen 1933 und dem Pogrom vom November 1938 insgesamt gesehen eine relativ untergeordnete Rolle. Das mag auf den ersten Blick überraschen.
Insbesondere in den ersten Jahren der NS-Herrschaft – 1933 und 1934 und selbst während der antisemitischen Kampagne, die die NSDAP Anfang 1935 und im Sommer dieses Jahres organisierte – wurde die »Judenfrage« in den Anweisungen des Propagandaministeriums an die Presse so gut wie überhaupt nicht behandelt. Damals wurde die antisemitische Kampagne offensichtlich in erster Linie über die Parteipresse und den Propagandaapparat der Partei, nicht jedoch über die allgemeine Presse geführt.
Eine solche Unterscheidung zwischen Parteiorganen und »allgemeiner«, das heißt nichtnationalsozialistischer Presse ist trotz der Verbotsund Gleichschaltungsmaßnahmen der Nationalsozialisten im Pressebereich vor allem für den Zeitraum vor Beginn des Zweiten Weltkrieges sinnvoll. Denn der Parteipresse und der allgemeinen Presse oblagen im Rahmen der NS-Propagandapolitik je eigene
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