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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Es lässt sich eine ganze Reihe von Berichten anführen, die hervorheben, dass die Bevölkerung sich vor allem für die dezidiert antijüdischen Gesetze interessierte; 84 andere meinen, alle neuen Gesetze hätten in gleichem Maße die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. 85 Vor dem Hintergrund, dass die Propaganda das Flaggengesetz mitunter stärker als die antisemitischen Gesetze herausstellte, ist dies bemerkenswert.
    Zur Aufnahme der Nürnberger Gesetze in der Bevölkerung entwerfen die Berichte ein durchaus unterschiedliches Bild. 86 Deutlich wird dabei, dass das Blutschutzgesetz weit stärker beachtet wurde als das Reichsbürgergesetz. 87 In den Berichten ist von umfassendem Enthusiasmus, 88 Zustimmung, 89 Befriedigung 90 und anderweitig positiven Reaktionen die Rede, 91 allerdings in einem erheblichen Teil der Fälle bereits von den Berichterstattern mit Einschränkungen versehen: Auffällig häufig heißt es, dass solche positiven Reaktionen »in weiten Volkskreisen«, 92 im »größeren Teil«, 93 »in fast allen Schichten der Bevölkerung« 94 anzutreffen seien oder dass »sich das Gros des Volkes mehr und mehr vom Juden abwendet«, 95 wobei der jeweilige Berichterstatter in der Regel auf den Versuch einer näheren Quantifizierung des Befundes verzichtet.
    Andere Berichte räumen ein, dass die Zustimmung zu den Nürnberger Gesetzen auf der Partei nahe stehende Bevölkerungskreise beschränkt sei, 96 während die überwiegende Zahl der vorliegenden Berichte sogar eindeutig negative Reaktionen in der allgemeinen Bevölkerung vermeldet beziehungsweise konzediert, die antisemitische Einstellung sei keineswegs in allen Bevölkerungsschichten vorherrschend. 97
    Einer begrenzten Zahl von Berichten lässt sich entnehmen, dass die Mehrheit der örtlichen Bevölkerung die Gesetze mit Zurückhaltung oder gar Ablehnung aufgenommen habe. »Die Judenfrage wird hier im Saarland in ihrer volkspolitischen Bedeutung von der Allgemeinheit noch nicht erkannt. Selbst bei vielen Parteimitgliedern trifft man auf eine erschreckende Unkenntnis über Rassenfragen«, heißt es da. Oder: »Über das mangelnde Verständnis der Judenfrage als völkisches Problem der Bevölkerung muss nach wie vor geklagt werden.« 98 Aus Höxter wurde gemeldet: »Ein eigentliches Rassebewusstsein und die Erkenntnis der tiefen Notwendigkeit dieser Gesetzgebung erwacht allerdings nur sehr vereinzelt.« 99 »In Bezug auf die Judenpolitik ist die Bevölkerung von deren unbedingter Notwendigkeit nicht zu überzeugen«, wurde in Sattelpeilnstein vermerkt, 100 und aus Springe wurde gewarnt: »Die antisemitische Einstellung der Bevölkerung ist nach meinen Beobachtungen keineswegs so groß, wie offenbar von der Partei angenommen wird.« 101 Aufmerksam verfolgten die Berichterstatter, dass insgesamt gesehen zwar weniger in jüdischen Geschäften eingekauft wurde, viele Menschen aber – trotz des in Nürnberg eingeschlagenen Kurses – an ihren Einkaufsgewohnheiten festhielten, ja örtlich sogar eine Zunahme der jüdischen Geschäftstätigkeit zu verzeichnen sei. Die Bevölkerung, so hieß es in einer ganzen Reihe von Berichten, sei in dieser Hinsicht unbelehrbar beziehungsweise bringe in diesem Einkaufsverhalten eine gewisse Oppositionshaltung gegenüber dem Regime zum Ausdruck. 102
    Umgekehrt geht nur aus einer einzigen Äußerung hervor, dass die Gesetze und ihre Ausführungsbestimmungen als nicht scharf genug angesehen wurden: So berichtet der Regierungspräsident von Minden, es gebe Kritik an der Regelung, dass Juden keine »arischen« Hausangestellten unter 45 Jahren mehr beschäftigen durften; man hätte die Beschäftigung von »arischen« Hausangestellten in jüdischen Haushalten ganz untersagen sollen. 103
    Allgemein wird in den Berichten die Erwartung ausgesprochen, dass durch die Gesetze »Klarheit« in der »Judenfrage« geschaffen werde und die Einzelaktionen nun aufhören müssten – eine Erwartung, die sich keineswegs sofort erfüllte, wie zahlreiche Berichte über anhaltende Attacken auf jüdische Bürger und jüdischen Besitz zeigen. 104 Einige Wochen nach den Nürnberger Gesetzen beruhigte sich die Lage jedoch: Einzelaktionen kamen tatsächlich kaum mehr vor, und die Bürger, so die Berichterstattung, verlören das Interesse an der »Judenfrage«, die nun endgültig bereinigt zu sein schien. 105
    Diese Tendenz der Berichterstattung ist jedoch nur für die Zeit nach den Nürnberger Gesetzen kennzeichnend. Für das gesamte Jahr 1935 ist Indifferenz

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