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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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nicht ungefährlicherer Art erkennen lassen. Diese Sachlage birgt zweifellos die Gefahr in sich, dass der Volksgenosse zur Verstellung und Heuchelei verführt wird. Da, wo die wahre Stimmung der Bevölkerung in ihrem gesamten Umfange einmal sichtbar wird, spielt häufig der Alkohol und der durch ihn bewirkte Leichtsinn eine nicht unerhebliche Rolle.« 72
    Wenn der Gestapo-Lagebericht für das gesamte Reichsgebiet für die Monate Mai und Juni 1935 »wachsende Gleichgültigkeit gegenüber der Judenfrage« feststellte, dann darf man nicht übersehen, dass diese vermeintliche Indifferenz der Bevölkerung in einem erheblichen Umfang die Unfähigkeit der Berichterstatter widerspiegelte, die »wahre« Meinung der Bevölkerung zu erfassen: Man äußerte sich zur »Judenfrage« öffentlich eben nur noch in vorsichtiger Form oder vermied das Thema ganz – nicht weil man sich dafür nicht interessierte, sondern weil man sich der außerordentlichen politischen Brisanz der »Judenfrage« bewusst war. 73 Mit den gleichen Problemen hatten offenbar auch die Berichterstatter der Sopade zu kämpfen; in ihrer zusammenfassenden Bewertung der einzelnen Berichte vom Februar 1935 ist ebenfalls von »Gleichgültigkeit«, »Apathie« und »Müdigkeit« der Bevölkerung die Rede. 74
    Die Berichte aus dem Jahre 1935 müssen außerdem vor dem Hintergrund der Konfliktlage gelesen werden, die sich während des Frühjahrs und Sommers 1935 herausbildete: auf der einen Seite die radikal-antisemitische, zur Aktion drängende Parteibasis, auf der anderen Seite die Behörden, denen primär an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gelegen war, sowie der Parteiapparat, der die Ausschreitungen zumindest in öffentlichen Erklärungen missbilligte. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung kam es den Berichterstattern als Repräsentanten staatlicher Autorität oder auch als Vertretern des Parteiapparates durchaus zupass, im Sinne einer Konsolidierung der Situation die illegalen beziehungsweise rowdyhaften Methoden des Parteimobs als besonders schädlich darzustellen, während sie im gleichen Atemzug – um diese Kritik überhaupt glaubwürdig erscheinen zu lassen – betonen mussten, dass die antijüdischen Zielsetzungen , die hier zum Ausdruck kamen, selbstverständlich allgemein gebilligt wurden. Der Tenor ihrer Berichterstattung in diesen Monaten entsprach also exakt der Interessenlage von Partei- und Staatsdienststellen im Konflikt mit der Parteibasis. Die Auswertung des gesamten Berichtsmaterials und der Vergleich mit den Sopade-Berichten lassen im Übrigen erkennen, dass die Ablehnung der antisemitischen Politik sich mitnichten in Zurückweisung der rabiaten Methoden von Parteiaktivisten erschöpfte, wie die Stimmungsberichterstattung nahe legte. Die negativen Reaktionen der Bevölkerung auf die antisemitischen Ausschreitungen waren vielfältiger, als die berichterstattenden Behörden glauben machen.
    Die mehrfach geäußerte Vorstellung, das Regime sei im Laufe des Jahres 1935 durch die Volksstimmung geradezu zu einer weiteren Radikalisierung der »Judenpolitik« getrieben worden, ist meiner Ansicht nach daher nicht haltbar. Weder können die Berichte einfach als getreuliches Abbild einer tatsächlichen »Volksstimmung« betrachtet werden, noch ließ sich das Regime durch die Berichterstattung in Zugzwang setzen. Die Behörden und Parteidienststellen hatten sich vielmehr mit den Stimmungsberichten ein eigenes Medium geschaffen, um den politischen Entscheidungsprozess zu beeinflussen. Die »Volksmeinung«, so wie sie uns in den Berichten als einheitliche Größe vorgestellt wird, war in einem erheblichen Umfang das Produkt der Stimmungsberichterstattung.
    Doch selbst aus der offiziellen Stimmungsberichterstattung geht eindeutig hervor, dass die Initiative zu weiteren antisemitischen Maßnahmen von den Behörden und der Partei ausging, wobei die Parteibasis mit ihren illegalen Aktionen eine Vorreiterrolle einnahm, die die politische Führung im Sinne eines vermeintlichen »Volkswillens« zielgerichtet instrumentalisierte. Ein geradezu klassisches Beispiel für diese Taktik ist eine Chefbesprechung von Vertretern des Reiches, der Länder und der Partei am 20. August 1935, auf der das weitere Vorgehen in der »Judenfrage« besprochen wurde. Der Gauleiter und bayerische Innenminister Wagner, einer der antisemitischen Scharfmacher, erklärte hier, um seinem Standpunkt größeres Gewicht zu verleihen, »80 v. H. des Volkes dränge nach Lösung der

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