Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
Vom Netzwerk:
laut dem Berichtsmaterial mitnichten kennzeichnend für die Haltung der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung zur »Judenfrage«. 106 Im Gegenteil: Nicht nur die Ausschreitungen, sondern auch die Nürnberger Rassegesetze wurden nach Auskunft der Berichte mit größter Aufmerksamkeit verfolgt, und die Reaktionen darauf waren gemischt, bis hin zu Verständnislosigkeit, Unwillen und Ablehnung. Das Interesse an der »Judenfrage« ließ demzufolge erst dann nach, als, wie erwartet, die »Einzelaktionen« aufhörten und es um das gesamte Thema ruhiger wurde.
    Es spricht einiges dafür, dass Gestapo und Innenverwaltung, die ein Interesse an einer gesetzlichen Lösung der »Judenfrage« hatten und eine Konfrontation zwischen Partei- und Staatsorganen vermeiden wollten, das Medium der Stimmungsberichte nutzten, um auf ein endgültiges Ende der »Einzelaktionen« zu drängen. Nachdem sich Staats- und Parteiführung zu einem Stopp der »Aktionen« und zu einer gesetzlichen Lösung entschlossen hatten, mussten diese Berichte die Überlegenheit dieses Weges gegenüber den »Einzelaktionen« nachweisen, wollte man sich nicht selbst ins politische Abseits stellen.
    Liest man die Berichte unter diesem Blickwinkel, dann spiegeln sie vor allem die Neuformierung der gelenkten öffentlichen Meinung wider: Durch das Eingreifen der Staats- und Parteispitze in die »Judenpolitik« sollten die in den letzten Monaten offensichtlich gewordenen Dissonanzen zwischen Partei und Staat beigelegt und der Eindruck erzeugt werden, die Bevölkerung schare sich einig und in Dankbarkeit um das Regime. Die Berichte waren demnach Teil einer Inszenierung – die dokumentierte Akklamation der Bevölkerung zu einer legalen »Judenpolitik« des Regimes. Diese Akklamation aber kann genauso wenig als authentischer Ausdruck des Bevölkerungswillens gelten, wie es die Wahlergebnisse bei den »Wahlen« können, die das Regime durchführen ließ, oder die begeisterten Massen, die die Propaganda anlässlich der Reichsparteitage und sonstiger Parteiveranstaltungen abbildete. Die in den Berichten nach einer langen Phase antisemitischer Aufgeregtheit im Herbst 1935 zum Ausdruck kommende »Indifferenz« der Bevölkerung in der »Judenfrage« ist somit kein demoskopischer Befund, sondern das Ergebnis eines geschickten politischen Kalküls.
    Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die Sopade-Berichte mit einbezieht. So heißt es im September 1935 aus Sachsen: »Die Judengesetze werden nicht sehr ernst genommen, denn die Bevölkerung hat ganz andere Sorgen und ist zumeist der Ansicht, dass der ganze Judenrummel nur veranstaltet wird, um die Menschen von anderen Dingen abzulenken und der SA Beschäftigung zu geben. Man darf aber nicht meinen, dass die Judenhetze nicht auch die gewollte Wirkung auf viele Menschen habe. Im Gegenteil, es gibt genug Leute, die im Banne der Judenverfemung stehen und die Juden als die Urheber manchen Missstandes betrachten. Sie sind zu fanatischen Judengegnern geworden. Diese Feindschaft äußert sich vielfach in der Form, dass man Volksgenossen wegen ihres Verkehrs mit Juden bespitzelt und denunziert, wohl auch in der Hoffnung, dafür bei der Partei Anerkennung und Bevorzugung zu finden. Die Massen der Bevölkerung ignorieren aber die Judendiffamierung, sie kaufen sogar mit demonstrativer Vorliebe in jüdischen Warenhäusern und nehmen gegen die kontrollierenden SA-Posten, vor allem, wenn diese photographieren wollen, eine recht unfreundliche Haltung ein.« 107
    Auch in den folgenden Monaten ist von »Indifferenz« in den Sopade-Berichten nicht die Rede. Die antijüdische Politik werde zwar weiterhin von einer Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt; im Vordergrund der Kritik stünden jedoch mehr die Methoden der Verfolgung. Der Antisemitismus als solcher hingegen stoße in der Bevölkerung mehr und mehr auf Resonanz. Über das Ausmaß dieser Zustimmung vermitteln die Berichte ein unterschiedliches Bild; man erhält den Eindruck einer schwer bestimmbaren Tiefenwirkung. Der ausführliche Januar-Bericht der Sopade kommt 1936 zu der Schlussfolgerung: »Dass es eine ›Judenfrage‹ gibt, ist allgemeine Auffassung.« 108
    Diese Aussage wurde durch eine ganze Reihe von Berichten gestützt, auch wenn der Tenor des Materials keineswegs einheitlich ist. So hieß es etwa aus Sachsen, »dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung heute schon von der Richtigkeit der nationalsozialistischen Rassenlehre überzeugt ist«. Und: »Der Antisemitismus hat

Weitere Kostenlose Bücher