Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
Vom Netzwerk:
zweifellos in breiten Kreisen des Volkes Wurzeln gefasst.« 109 Ebenfalls aus Sachsen wurde die Ansicht wiedergegeben, »dass die Juden zwar in Zukunft in Deutschland leben dürfen, dass sie aber keine führenden Staatsstellungen mehr einnehmen« sollten. Ein weiterer Bericht aus Sachsen vermerkte dagegen über die Situation in Leipzig: »In den breiten Volksschichten hat der Antisemitismus keine Wurzeln gefasst.« Und ein jüdischer Geschäftsreisender berichtete aus Mitteldeutschland, ihm seien dort keinerlei Schwierigkeiten gemacht worden. 110
    Aus Schlesien wurde gemeldet: »Die Judenhetze wird weiterbetrieben, aber ohne besonderen Erfolg in der Bevölkerung.« Aus Bayern hieß es: »Es gibt nicht wenige, die, obwohl keine Nationalsozialisten, dennoch in gewissen Grenzen damit einverstanden sind, dass man den Juden die Rechte beschneide, sie vom deutschen Volkstum trennt.« Ein Berichterstatter aus Hessen meinte, die »Bevölkerung dieses Landstrichs ist nicht antisemitisch«. Dagegen verlautete aus Berlin: »Auch die Judenhetze bleibt nicht ohne Einfluss auf die Volksmeinung. Ganz langsam werden da Anschauungen hineinfiltriert, die früher abgelehnt wurden.« Ein weiterer Bericht aus Berlin meldete: »Gewisse psychologische Wirkungen hat die Judenhetze allerdings gehabt, aber nicht allein für die Juden nachteilige.« 111
    Ein dritter Bericht aus Berlin behauptet, man müsse »geradezu Achtung davor haben, wie wenig die antisemitischen Parolen im Volk verfangen haben. Andererseits muss man bedenken, dass das deutsche Volk innerlich immer antisemitisch gewesen ist. Dieser gemäßigte Antisemitismus hat auch heute noch Boden in den Kreisen, die den Radau-Antisemitismus ablehnen. […] Das Empfinden dafür, dass die Juden eine andere Rasse sind, ist heute allgemein.« 112
    Sieht man die offizielle Berichterstattung und die Sopade-Berichte im Zusammenhang, so zeigt sich, dass die »Judenpolitik« des Regimes in der Bevölkerung auf ein erhebliches Maß von Unverständnis und Ablehnung stieß; diese reservierte bis negative Einstellung war jedoch eher diffus und vielschichtig, häufig durchsetzt mit einem Gefühl von Distanz und Ablehnung gegenüber der jüdischen Minderheit. Unter diesen Bedingungen konnte sich keine kollektive Stimme gegen die Verfolgung erheben.

Die »ruhigen Jahre«: Illusion und Realität der »Judenpolitik«

Die »Judenfrage« in der Presse 1936/37
    Seit Anfang 1936 wurde der Presse – unter Verweis auf die bevorstehenden Olympischen Spiele – Zurückhaltung in der »Judenfrage« empfohlen; 1 selbst das Attentat David Frankfurters auf den Landesgruppenleiter der NSDAP in der Schweiz, Wilhelm Gustloff, am 4. Februar 1936 wurde nicht für eine groß angelegte antisemitische Kampagne genutzt. 2 Erst als Frankfurter im Dezember 1936 der Prozess gemacht wurde, schlachtete die Propaganda dies mit einer Kampagne gegen die angeblichen »Hintermänner« des Attentats aus. 3
    Diese Zurückhaltung setzte sich bis weit ins Jahr 1938 fort. Selbst der seit Anfang 1938 wieder zunehmende antijüdische Aktionismus der Partei wurde in der Pressekonferenz zunächst nicht aufgegriffen. Im Juni 1938, als die antijüdischen Ausschreitungen in Berlin und die Massenverhaftungen von Juden im Reichsgebiet starken Widerhall in der internationalen Presse fanden, war das Propagandaministerium schließlich zögerlich dazu bereit, Sprachregelungen herauszugeben, die darauf angelegt waren, diese Vorgänge herunterzuspielen – eine Haltung, die sich erst im November 1938 nach dem Attentat auf den Legationssekretär an der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, ändern sollte.
    Die Presse reagierte entsprechend. Der Völkische Beobachter etwa hatte zwischen Oktober 1935 und Januar 1936 durchschnittlich zwei bis drei antijüdische Beiträge pro Woche veröffentlicht. Nach einer kurzen Empörung über das Gustloff-Attentat Anfang Februar sank die Zahl der antisemitischen Beiträge während der kommenden Monate jedoch deutlich und erreichte während des Hochsommers (mit Rücksicht auf die Olympischen Sommerspiele im August) einen absoluten Tiefstand.
    Der Parteitag 1936, wie immer im September durchgeführt, wurde allerdings als Gelegenheit genutzt, die »Judenfrage« erstmals wieder groß herauszustellen. Ab November 1936 stieg die Zahl der antisemitischen Beiträge im Völkischen Beobachter wieder auf zwei bis drei Beiträge pro Woche an, erreichte im Dezember 1936 anlässlich des Prozesses gegen Frankfurter einen

Weitere Kostenlose Bücher