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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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unbelehrbare konfessionelle Kreise zu begrenzen. Juden, so der Bürgermeister von Fischen im Allgäu, würden »vom Großteil der Bevölkerung abgelehnt«; Ausnahmen machten nur »die um den Pfarrer versammelten Kreise und die politisch Uninteressierten«. 39 Die Juden, so der SD-Oberabschnitt Fulda-Werra, fänden Unterstützung bei den »christlichen Konfessionen« und den »marxistisch eingestellten Kreisen«; 40 der SD-Oberabschnitt Südwest wusste Ähnliches zu berichten. 41 Der Eindruck, dass die Haltung der beiden christlichen Konfessionen gegenüber dem Judentum »aus weltanschaulichen Gründen freundlich« sei, herrschte auch innerhalb des SD-Hauptamts vor. 42
    Die Art und Weise, wie die offizielle Berichterstattung den Begriff »Bevölkerung« verwendet, ist dabei außerordentlich erhellend. Ein genaueres Studium des Materials zeigt, dass für viele Berichterstatter die »Bevölkerung« beziehungsweise »das Volk« identisch mit dem nationalsozialistischen Parteianhang war. So heißt es in einem umfangreichen Bericht der Judenabteilung des SD von Anfang 1937, in dem die Optionen der »Judenpolitik« erörtert wurden: »Das wirksamste Mittel, um den Juden das Sicherheitsgefühl zu nehmen, ist der Volkszorn, der sich in Ausschreitungen ergeht.« 43 Die Tatsache, dass der »Volkszorn« hier ganz selbstverständlich als probates »Mittel« der »Judenpolitik« angeführt wird, zeigt, wie das »Volk« im internen Sprachgebrauch für Aktionen in Anspruch genommen wurde, die in Wirklichkeit eindeutig von der Partei ausgingen.
    Ein anderes Beispiel: Das bayerische Wirtschaftsministerium berichtete, ein Totalausverkauf eines jüdischen Geschäftes in dem Ort Rülzheim (Pfalz) habe einen »großen Zustrom gewissenloser Käufer« verursacht; ungeachtet eines vor dem Geschäft aufgebautem SS-Postens sei zu beobachten gewesen, dass die Käufer »in Scharen das Geschäft betraten und es mit großen Paketen wieder verließen«. Angesichts dieser Missachtung des zur Abschreckung potenzieller Käufer aufgestellten Postens habe sich vor dem Geschäft ein Menschenauflauf gebildet. 44 Der Bericht fährt fort: »Die Erregung der Bevölkerung wuchs derart, dass sich die Gendarmerie schließlich am 3. Tag genötigt sah, den Geschäftsführer zur Schließung des Geschäftes zu veranlassen.« 45 Für den Berichterstatter war klar, dass nicht die in das Geschäft eindringenden Käufermassen, sondern die sich drohend vor dem Geschäft aufbauenden NS-Anhänger »die Bevölkerung« (das heißt die Träger des wahren »Volkswillens«) repräsentierten.
    Der Gendarmerieposten in Haigerloch wiederum berichtete im Oktober 1937 von einer Auseinandersetzung mit einem auswärtigen SA-Führer, der damit drohte, eine Versammlung des jüdischen Kulturbundes »auffliegen« zu lassen, obwohl diese ganz offiziell durch den Sonderbeauftragten des Propagandaministeriums für jüdische Kulturfragen genehmigt worden war. In unserem Zusammenhang von Interesse ist die Wortwahl, deren sich der SA-Führer (laut Bericht des Gendarmeriepostens) bediente: Man werde »diesen Herren da oben heute Nachmittag einmal zeigen […], dass Nationalsozialismus etwas sei, was aus dem Volke komme und mit dem Volksempfinden zusammenhänge«; der Gendarmerieposten solle sich schon überlegen, was er zu tun gedenke, »wenn sich die Bevölkerung gegen diese Veranstaltung stellen würde«. 46
    Wie weit man jedoch tatsächlich noch davon entfernt war, »die Bevölkerung« zu einer geschlossenen Haltung in der »Judenfrage« zu bewegen, macht der Gesamtbericht der Judenabteilung des SD-Hauptamts für das Jahr 1937 deutlich: Unabdingbare Voraussetzung für die »Lösung der Judenfrage durch die Auswanderung« sei »die einmütige Ablehnung der Juden durch alle Bevölkerungsteile«, die noch nicht in ausreichendem Umfang gegeben sei. 47
    Bei genauer Lektüre der Berichterstattung zeigt sich also, dass die Auffassung der Bevölkerung zur »Judenfrage« offenbar weitaus weniger einheitlich war, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. 48

Die dritte antisemitische Welle 1938
    Im Herbst 1937, verstärkt seit Anfang 1938, setzte die dritte antisemitische Welle ein, diesmal in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Übergang des Regimes zur Expansionspolitik, die Hitler der militärischen Führung und dem Außenminister Anfang November erläutert hatte und die durch die umfangreiche personelle Umgestaltung der Reichsregierung und der Reichswehr Ende 1937/Anfang 1938 vorbereitet wurde.

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