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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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antisemitische Gesetzgebung sei demgegenüber vielfach begrüßt worden. 22
    Bankier betont darüber hinaus, bei vielen Menschen, die direkt mit antijüdischer Gewalt konfrontiert waren, seien Schamgefühle ausgelöst worden. Auch Angst, selbst nächstes Opfer der Verfolgung zu werden, sei aufgekommen. 23 Verschiedentlich wird hervorgehoben, dass eine relativ große Anzahl von Deutschen ihr Mitgefühl gegenüber den verfolgten Juden zum Ausdruck gebracht und auf verschiedenste Weise versucht hätten, ihnen beizustehen. 24
    Inwieweit lassen sich solche Bewertungen durch die Stimmungsberichterstattung belegen?
    Während einige Berichte – ebenfalls eine Minderheitenposition – eine weitgehende oder gar einhellige Ablehnung des Pogroms durch die Bevölkerung, ja Unverständnis für die Judenverfolgungen vermelden, 25 entwerfen die weitaus meisten Berichterstatter – unabhängig davon, ob sie den Staat, die Polizei oder die Partei repräsentierten – das Bild einer »geteilten« Volksmeinung: Danach hätten weite Kreise der Bevölkerung sich grundsätzlich dafür ausgesprochen, dass »Vergeltung« an den Juden für den Mord an vom Rath geübt werde, während die Form der Vergeltungsmaßnahmen auf starke Ablehnung (teilweise in den gleichen Bevölkerungskreisen) gestoßen sei. 26
    Die den Juden auferlegte Geldbuße wurde, folgt man den Berichten, in vielen Fällen als gerechte Strafe angesehen, auch die antijüdischen Gesetze habe man gebilligt; vor allem die sinnlose Zerstörung von »Sachwerten« sei aber auf Kritik gestoßen. 27 Bemerkenswerterweise wurde dieses Eigentum der Juden häufig als »Volkseigentum« angesehen, das, statt zerstört, besser an bedürftige Bevölkerungskreise verteilt worden wäre.
    In der Berichterstattung spielte dieser Punkt die Hauptrolle: Angesichts der Rohstoffknappheit, der staatlich verordneten Sparaktionen und der insgesamt angespannten Wirtschaftslage im Zeichen der forcierten Aufrüstung passe die mutwillige Zerstörung von Gebäuden und Waren nicht ins Bild – nun sei ein Nachlassen der Spendenfreudigkeit zu befürchten oder gar schon zu registrieren. 28 Daneben zeige sich die Bevölkerung besorgt, die Aktion könne sich negativ auf das internationale Ansehen des Deutschen Reiches und seine Außenpolitik auswirken oder es könne zu Vergeltungsaktionen gegen Auslandsdeutsche kommen. 29 Außerdem werde die Eigenmächtigkeit der Partei kritisiert, 30 der Willkürcharakter der Zerstörungen, die Brutalität der Misshandlungen, die kriminelle Energie, die in Diebstählen und Plünderungen zum Ausdruck gekommen sei, 31 und die Beteiligung von Schulkindern an den Plünderungen. 32 Insgesamt befürchte man »dadurch eine neue Lockerung der Achtung vor den Gesetzen des Staats«. 33 Den »besonnenen Teil der Bevölkerung«, so heißt es zum Beispiel in einem Bericht des Landrats in Höxter, habe es »ernst und besorgt gestimmt, dass es möglich gewesen ist, scheinbar unter dem Schutz, wenn nicht sogar der Führung der Partei, an einzelnen Orten Handlungen und Erscheinungen zutage treten zu lassen, die der Bevölkerung bisher nur aus Schilderungen über die Zustände in anarchistischen Ländern bekannt waren«. 34 Man findet verschiedentlich Bedenken gegen die Zerstörung von Synagogen, die als »Gotteshäuser« hätten respektiert werden müssen, 35 und schließlich wurde, so die Berichte, immer wieder auch ganz einfach Mitleid zum Ausdruck gebracht. 36
    Allerdings konnte die Kritik an der Durchführung der Aktion auch ganz andere Formen annehmen: Die Gendarmerie Amt Schötmar (Westfalen) meldete etwa, es »wurden Ausdrücke laut, dass man lieber 100 oder 1000 Juden hätte erschießen sollen« – eine Meinungsäußerung, die im gesamten Berichtsmaterial allerdings vereinzelt dasteht. 37
    Der größte Widerspruch kam, so die Berichte, aus der kirchlich gebundenen Bevölkerung, vor allem aus katholischen Kreisen. Hier war vielerorts angesichts brennender Synagogen die Befürchtung zu vernehmen, man werde bald selbst einer »Aktion« der Partei zum Opfer fallen. 38 Daneben wurde insbesondere Kritik seitens der Arbeiterschaft registriert; die kommunistische Agitation, so einige Berichterstatter, erhalte durch den Pogrom neuen Auftrieb. 39 Beunruhigung wurde außerdem aus der ländlichen Bevölkerung, 40 aus kleinbürgerlichen, 41 bürgerlichen, 42 intellektuellen 43 und allgemein »besseren« 44 Kreisen gemeldet; einigen Berichten zufolge machte sich Kritik selbst in Parteikreisen breit.

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