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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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November 1938, das bemerkenswerterweise auch die Massenverhaftungen erwähnte, die die Presse im Allgemeinen verschwieg: »Nach Bekanntwerden des Ablebens vom Rath’s, dieses jüngsten Opfers feiger jüdischer Mordtat, machte sich auch in Bamberg die berechtigte und seit langer Zeit aufgespeicherte Empörung der Bevölkerung gegen das jüdische Element in spontanen Aktionen Luft: Noch in der Nacht wurden die Wohnungen und Geschäfte der Juden gekennzeichnet. In den ersten Stunden des Donnerstags brach in der jüdischen Zentrale, der Synagoge, Feuer aus, dem das Innere des Gebäudes zum Opfer fiel. Da Gefahr bestand, dass die empörten Volksmassen zu weiteren Maßnahmen schreiten würden, mussten die Juden der Stadt zu ihrer eigenen Sicherheit in Schutzhaft genommen werden. Den ganzen gestrigen Tag über herrschte in der Stadt ein außerordentlich lebhafter Verkehr, und überall wurden die Ereignisse des Tages besprochen. Die brennende Synagoge war das Ziel vieler Menschen. Trotz der berechtigten Empörung über das Judentum, das das Blut schon so manchen deutschen Volksgenossen auf dem Gewissen hat, zeigte die Bevölkerung große Disziplin.«
    Die Berichterstattung der Schlesischen Zeitung ist ähnlich plastisch: »Wie im Reich, so auch in Schlesien äußerte sich die Stimme des Volkes impulsiv in Aktionen, die im Niederbrennen der Synagogen und dem demonstrativen Zerstören jüdischer Geschäfte Ausdruck fanden. Die Stärke der Empörung wurde nicht zuletzt dadurch dokumentiert, dass auch nicht ein einziges jüdisches Geschäft der strafenden Hand des Volkes entging.« Der Berichterstatter sah keinen Grund, die offenkundigen Plünderungen zu verschweigen: »Bemerkenswert war, dass in allen Fällen trotz Zerstörung der Fensterscheiben, der Eisengitter und der Türen in keinem Falle Plünderungen oder Ausschreitungen über das gerechte Maß der Empörung hinaus [sic!] bemerkt wurden. Diese Aktionen waren nicht der Ausdruck eines niederen Instinkts, sie bestanden nicht im bloßen Willen zu Plünderungen, sondern einzig und allein darin, den Juden zu zeigen, dass unsere Geduld nun zu Ende ist.« 11
    Über die Gesamtsituation im Reichsgebiet berichteten die Zeitungen nur in allgemeiner Form. Meist hieß es lapidar, es hätten sich »judenfeindliche Kundgebungen« ( Westdeutscher Beobachter , 10. November, Abendausgabe) oder »spontane judenfeindliche Kundgebungen« ( Münchner Neueste Nachrichten , 11. November) ereignet. 12 Der Berliner Lokalanzeiger und die Berliner Morgenpost mussten sich in der Pressekonferenz rügen lassen, weil sie trotz des ausdrücklichen Verbots Meldungen aus dem gesamten Reichsgebiet über die Zerstörungen zu Übersichten zusammengestellt hatten. 13
    Dies waren jedoch Ausnahmen: Die von der Presse ganz überwiegend befolgte Richtlinie des Propagandaministeriums, das Gesamtausmaß der Ausschreitungen und Zerstörungen (von Misshandlungen und Morden ganz zu schweigen) zu ignorieren, lässt sich auf die Strategie zurückführen, die Ereignisse des 9. und 10. November nicht in vollem Umfang öffentlich zu machen; genauer gesagt, nicht zuzulassen, dass sie in der nationalsozialistisch dirigierten Öffentlichkeit einen besonderen Stellenwert erhielten.
    Wären die Zeitungen voll von Fotos zerstörter Geschäfte und rauchender Synagogenruinen gewesen, hätten sie die Ausschreitungen aufgelistet, die Schäden zusammengerechnet, über Verhaftungen, Körperverletzungen und Todesfälle berichtet, dann wären auf diese Weise Probleme auf die Tagesordnung gekommen, zu denen das Regime unter Umständen öffentlich hätte Stellung nehmen müssen: etwa, was mit den 30 000 jüdischen »Schutzhäftlingen« geschehen solle, ob und wie Plünderer oder Mörder bestraft oder wie der gesamtwirtschaftliche Schaden zu beziffern und zu regulieren sei.
    So aber hatte der Pogrom zwar auf örtlicher Ebene für jedermann sichtbar stattgefunden, blieb aber in seinen nationalen Ausmaßen nur in Umrissen erkennbar. Das Tagebuch des Celler Technikers Karl Dürkefälden zeigt, wie schwer es für den Einzelnen war, sich darüber einen Überblick zu verschaffen: »Dass im ganzen Deutschen Reiche in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 Ausfälle gegen jüdische Geschäfte, Wohnungen und Synagogen gewesen sind, haben wir wohl durch die Propaganda-Nachrichten in den Zeitungen wenige Tage später gelesen, ausgehend vom Propaganda-Ministerium. Diese Nachrichten waren aber so allgemein gehalten, dass man daraus nichts gewahr

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