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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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wurden. 52 Gestützt wurde diese Aussage durch Berichte aus Rheinland-Westfalen, Südwestdeutschland, Bayern, Berlin, Schlesien und Danzig. 53 Das hier gezeichnete, sehr eindeutige Bild wird – im Gegensatz zur Berichterstattung in den vergangenen Jahren – kaum durch andere, die Judenverfolgung gutheißende Stimmen konterkariert. 54 Allerdings wird aus dem Material auch deutlich, wie stark die Berichterstatter der Sopade vor allem das ihnen vertraute sozialistische Milieu repräsentierten. »Mit einem Nazi«, so heißt es in einem Bericht aus Südwestdeutschland über den Novemberpogrom, »spricht man über die Sache nicht.« 55
    Eine Meldung aus Berlin illustriert, welche Ausdrucksformen die Ablehnung tatsächlich fand, und eröffnet uns zugleich einen Einblick in die Methode der »teilnehmenden Beobachtung«, auf die sich die Informanten der Sopade ebenso stützten wie die Spitzel des Partei- und Staatsapparates. Der Protest, so heißt es dort, reiche »vom verächtlichen Blick und der angewiderten Gebärde bis zum offenen Wort des Ekels und drastischer Beschimpfung«. 56
    Ein weiterer Bericht aus Berlin fasst in einem Satz zusammen, warum die offiziell verbreiteten Version vom spontan ausbrechenden »Volkszorn« so wenig überzeugend und widersinnig war: »Wenn die antisemitische Propaganda so gewirkt hätte, wie sie wirken sollte, dann wäre ja diese Aktion überhaupt nicht nötig gewesen.« 57
    Der Psychologe Michael Müller-Claudius befragte unmittelbar nach dem Pogrom insgesamt 41 Parteimitglieder in Form »unverfänglicher Gespräche«. 58 Diese private Umfrage, die selbstverständlich nicht als repräsentativ gelten kann, bestätigt das in den Stimmungsberichten entworfene Bild: Nur zwei Parteigenossen billigten die Gewaltakte ausdrücklich, 13 waren indifferent oder übten sich in vorsichtiger Zurückhaltung, 26 Personen aber, also die deutliche Mehrheit, reagierte mit »uneingeschränkter Entrüstung«. 59
    Zeitgenössische Tagebücher deuten in dieselbe Richtung. In der Regel seien ablehnende Äußerungen aber in verdeckter Form erfolgt, durch Blicke, Gesten oder Kommentare, die, wenn sie außerhalb der privaten Sphäre abgegeben wurden, mit Vorsicht und Zurückhaltung formuliert wurden. 60 So notierte die in Berlin lebende Regimegegnerin Ruth Andreas-Friedrich am 9. November 1938, also nach dem Attentat auf den deutschen Diplomaten vom Rath und vor der Auslösung des Pogroms: »Im Omnibus, auf der Straße, in Geschäften und Kaffeehäusern wird der Fall Grünspan laut und leise diskutiert. Nirgends merke ich antisemitische Entrüstung, wohl aber eine drückende Beklommenheit, wie vor dem Ausbruch eines Gewitters.« Am folgenden Tag, nach der Pogromnacht, beschreibt sie eine »stumme Masse, die betreten in Richtung der Synagoge starrt, deren Kuppel von Rauchwolken verhüllt ist. ›Verfluchte Schande!‹ flüstert neben mir ein Mann. Ich sehe ihn liebevoll an. Jetzt wäre es eigentlich Zeit, zu seinem Nächsten ›Bruder‹ zu sagen. Aber ich tue es nicht. Man tut so etwas nie. Man denkt es sich bloß.« Und sie fährt fort: »Wenn man nur herausbekäme, wer dafür und wer dagegen ist. Ich mache mich auf, Volksstimmung zu erforschen. Wo ich hinkomme, finde ich im besten Fall Volksverstimmung, im schlimmsten abgrundtiefe Verzweiflung.« 61
    Walter Tausk, ein Breslauer Jude, hielt am 12. November 1938 fest, es hätten sich zwar Jugendliche an den Ausschreitungen beteiligt, jedoch: »Das ältere Publikum war sehr geteilter Ansicht, die allgemeine Stimmung aber war entschieden gegen diese Ereignisse […] Die Straße dick gefüllt mit gaffenden und heftig diskutierendem Publikum, teils in heller Begeisterung vom Kinde bis zu alten Leuten. Aber trotzdem eine fürchterliche Beklommenheit bei allen: es schien den meisten nicht recht.« Am 24. November schrieb Tausk, man wisse »sehr genau bei der Regierung, dass weite Arbeiterkreise, ebenso die eigene Partei und SA protestiert haben, dass man sie als ›Volk‹ für diesen Überfall auf Wehrlose verantwortlich machen will und dass sie diesen Dingen […] fern stehen.« 62
    Der mit einer jüdischen Frau verheiratete und an der Ausübung seines Berufes gehinderte Journalist Jochen Klepper schrieb am 10. November 1938: »Dass die Bevölkerung wieder nicht dahinter steht, lehrt ein kurzer Gang durch jüdische Gegenden; ich habe es selber gesehen, denn ich war heute morgen gerade im bayerischen Viertel […] Aus den verschiedenen ›jüdischen‹ Gegenden der

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