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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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    Wie glaubwürdig ist das hier entworfene Bild? Nahm die Bevölkerung tatsächlich mehr an der Form der »Reichskristallnacht« Anstoß, während sie grundsätzlich eine »Vergeltungsaktion« gegen die deutschen Juden befürwortete? War es tatsächlich in erster Linie die Zerstörung von Vermögenswerten, die auf Ablehnung stieß?
    Es spricht einiges dagegen, diese von der Berichterstattung gezeichnete Stimmungslage vorschnell zu übernehmen. Eine Reihe von Berichten zeigt, wie schwer es den Berichterstattern tatsächlich fiel, die »wahre« Volksmeinung zu ermitteln. Die Bevölkerung, so der Amtsbürgermeister von Werther (Westfalen), sei »außerordentlich vorsichtig in ihrer Kritik, weil man befürchtete, als Judenfreund bezeichnet zu werden und dadurch wirtschaftliche und sonstige Nachteile zu haben«. 46 Der Oberbürgermeister von Herford meldete in ähnlicher Weise, man halte »mit offener Kritik bewusst zurück, zumal, nachdem bekannt geworden ist, dass an anderen Orten Festnahmen dieserhalb erfolgt sind. Dafür wird anscheinend eine umfangreiche Kritik von Mund zu Mund unter Bekannten und Vertrauten getrieben. Die nach außen in Erscheinung tretende Zurückhaltung steht sonach im Widerspruch mit der inneren Einstellung zu den Dingen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich auf diese Weise eine gewisse Unehrlichkeit in unserm öffentlichen Leben Platz macht.« 47 Noch weiter ging der Regierungspräsident von Minden in seiner Bewertung des öffentlichen Schweigens angesichts des Pogroms: »Über die von der Partei befohlene Aktion vom 9. bis 10. November herrscht dagegen – wie auf Verabredung – betretenes Schweigen. Selten äußert sich offene Meinung. Man schämt sich.« 48
    Zurückhaltung weiter Bevölkerungskreise in öffentlichen Äußerungen und Gesprächen, ja Stummheit sind häufig in den offiziellen Berichten vorkommende Befunde. 49 Die relativ oft zu findende Formel, es seien negative Äußerungen »nicht bekannt geworden«, deutet in die gleiche Richtung. Dieser teilweise Rückzug der Meinungsbildung in den privaten Bereich (wo sie für die Spitzel des Regimes nur noch schwer aufzuspüren war) darf nicht mit Desinteresse oder Indifferenz verwechselt werden. Wir haben genügend Anhaltspunkte dafür, dass die Bevölkerung die Ereignisse vom 9. und 10. November mit größter Anspannung verfolgte.
    Es ist demnach durchaus denkbar, dass die große Mehrzahl der Bevölkerung ihre Kritik an der Brutalität der Judenverfolgung in eine Form kleidete, die aus der Sicht des Regimes gerade noch akzeptabel war: Denn die »sinnlose Zerstörung« von Sachwerten stieß auch innerhalb der Regimespitze auf Widerspruch; namentlich Göring, verantwortlich für den Vierjahresplan, regte sich in der auf den Pogrom unmittelbar folgenden großen Besprechung vom 12. November 1938 darüber auf. 50
    Plausibel ist auch, dass die Berichterstatter – Bürgermeister, Landräte, Regierungspräsidenten, höhere Polizei- und Gestapobeamte – die Berichte ihrerseits als Medium benutzten, um ihr eigenes Missfallen an der nicht kontrollierbaren »Aktion« der Partei, die mit massiven Gesetzesübertretungen, Missachtung der Ordnungsbefugnis der Behörden, ja zeitweise Anarchie einherging, möglichst wirkungsvoll zu artikulieren. Dabei durfte die Reaktion der Bevölkerung jedoch nicht als grundsätzlich gegen die Judenverfolgung gerichtet dargestellt werden, hätten die Berichterstatter aus Verwaltung und Polizei damit doch die Erfolglosigkeit der von ihnen selbst in den vergangenen Jahren mitgetragenen antijüdischen Politik dokumentiert. Vielmehr lag es nahe, die Form der Verfolgungsmaßnahmen ins Zentrum der Kritik zu rücken, um ihre eigene, durch die Ereignisse angeschlagene Autorität – unter Verweis auf die »Volksstimmung« – wieder zu festigen. Das gilt auch für die Parteifunktionäre, die schriftliche Berichte zum Pogrom abfassen mussten.
    Die offizielle Berichterstattung mochte somit ein gewisses Interesse daran haben, die Reaktion der Bevölkerung in einer gefärbten Art und Weise darzustellen und die Kritik in bestimmte Kanäle abzuleiten; dass die Bevölkerung den Pogrom weitgehend ablehnte, wird indes durch andere Quellen bestätigt, insbesondere durch die Berichte der Exil-SPD. 51 Die Redakteure der Sopade-Berichte kamen auf der Grundlage des ihnen vorliegenden Berichtsmaterials zu der Schlussfolgerung, »dass die Ausschreitungen von der großen Mehrheit des deutschen Volks scharf verurteilt«

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