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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Stadt hören wir, wie ablehnend die Bevölkerung solchen organisierten Aktionen gegenübersteht. Es ist, als wäre der 1933 noch reichlich vorhandene Antisemitismus seit der Übersteigerung der Gesetze in Nürnberg 1935 weit-, weithin geschwunden. Anders steht es aber wohl bei der alle deutsche Jugend erfassenden und erziehenden Hitlerjugend.« 63
    Die beim Sondergericht München verhandelten »Heimtückefälle«, die Ian Kershaw ausgewertet hat, machen ebenfalls deutlich, dass das Regime sich nach der »Kristallnacht« in besonderer Weise veranlasst sah, auf kritische Äußerungen hinsichtlich der Judenverfolgung zu reagieren: Fast die Hälfte aller Verfahren, die Kritik an der »Judenpolitik« des Regimes betrafen, wurden zwischen November 1938 und März 1939 eingeleitet. 64
    Ingesamt gesehen konnte das Regime die weitgehend passive Haltung, in der die meisten Deutschen während der Ausschreitungen verharrten, jedoch als Erfolg bewerten: Eine Gewaltaktion gegen die deutschen Juden, wie man sie seit den mittelalterlichen Judenverfolgungen nicht mehr erlebt hatte, war ohne offenen Protest hingenommen worden. Propagandistisch ließ sich das als Zustimmung ausgeben. Die Radikalisierung der Judenverfolgung war erfolgreich einen weiteren Schritt vorangetrieben worden.
    Dass das Propagandaministerium mit dem Verhalten der Bevölkerung während des Pogroms und seiner Einstellung zur »Judenfrage« indes keineswegs zufrieden war, zeigte die neuerliche antisemitische Propagandakampagne, die direkt im Anschluss an den Pogrom in Gang gesetzt wurde.

Nach dem Pogrom: Schadensbegrenzung
    Nach der offiziellen Beendigung des Pogroms am 10. November galt es, die Bevölkerung auf die bereits eingeleiteten gesetzlichen Maßnahmen zur Regelung der »Judenfrage« vorzubereiten; wie 1933 und 1935 sollte nun der Staat auf die Forderungen der als »Volk« getarnten Parteianhänger, die sich in den antijüdischen Ausschreitungen und Gewalttätigkeiten Luft gemacht hatten, in »geordneter« Weise reagieren. Am 12. November erschien in der gesamten Presse ein ausführlicher Kommentar von Goebbels, der in autoritativer Form zu dem Pogrom Stellung nahm. Goebbels machte »die Juden« noch einmal kollektiv für das Pariser Attentat verantwortlich und kam zu folgender Schlussfolgerung: »Das Judentum hat also in Paris auf das deutsche Volk geschossen. Die deutsche Regierung wird darauf legal, aber hart antworten.« 65
    Worin diese legale Antwort konkret bestehen sollte, war zunächst jedoch unklar – ein Dilemma für das Propagandaministerium. Ebenfalls am 12. November erließ es daher an die Presse die Anweisung, man solle sich davor hüten, »Vermutungen über die beabsichtigten gesetzlichen Maßnahmen auszusprechen (Einrichtung eines Ghettos, Verschickung aller unter 60 Jahre alten Juden in Arbeitslager). Solche Gerüchte seien ebenso zahlreich wie falsch.« 66
    Tatsächlich wurden am 12. November drei antijüdische Verordnungen erlassen: Juden durften keine Betriebe mehr leiten; sie mussten für die im Zusammenhang mit dem Pogrom entstandenen Schäden selbst aufkommen, ihre Versicherungsansprüche wurden zugunsten des Reiches beschlagnahmt, außerdem wurde den deutschen Juden als Gemeinschaft eine »Sühneleistung« in Höhe von einer Milliarde Reichsmark auferlegt. Im Luftfahrtministerium beriet derweil eine interministerielle Runde unter Vorsitz Görings weitere antijüdische Maßnahmen; auch darüber berichtete die Presse. 67
    Am 13. November hielt Goebbels vor den Propagandisten der Berliner Parteiorganisation eine Rede, die auf Anordnung des Propagandaministeriums von sämtlichen Zeitungen als verbindliche Stellungnahme des Regimes zum weiteren Vorgehen in der »Judenpolitik« abgedruckt wurde. Goebbels erläuterte hier die geplanten gesetzlichen Maßnahmen gegen die deutschen Juden und stellte klar, dass angesichts der bevorstehenden vollständigen Überführung des jüdischen Besitzes in »deutsche Hände« weitere »Aktionen« gegen jüdische Geschäfte eine Schädigung »deutschen Volksvermögens« darstellten und entsprechend bestraft werden würden. 68
    Am 15. November versandte das Propagandaministerium eine fünfseitige »Kommentaranweisung« Goebbels’ über die »Internationale Judenfrage« an die Redaktionen 69 und verbreitete außerdem ein Interview, das Goebbels der britischen Agentur Reuters gegeben hatte. In diesem Interview rechtfertigte der Propagandaminister die antisemitischen Maßnahmen, schloss weitere Schritte

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