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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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wurde.« 14
    In der offiziellen Sprachregelung existierten die Ereignisse vom 9. und 10. November fortan so gut wie nicht mehr; sie waren jeder öffentlichen Diskussion entzogen, etwas, worüber man nicht sprach. Es gab nicht einmal eine offizielle Bezeichnung für die Ausschreitungen, für die sich – soweit ersichtlich, ohne offizielle »Sprachregelung« – alsbald der Begriff »Reichskristallnacht« einbürgerte.
    Noch am 10. November ging das Regime daran, die notwendigen Schritte zu einer »positiven« Ausrichtung der Öffentlichkeit über den Pogrom einzuleiten: Zunächst wurden die Zeitungen angewiesen, eine Erklärung des Propagandaministers zu veröffentlichen, der zufolge die Gewalttätigkeiten, auch wenn sie eine »berechtigte und verständliche Empörung« zum Ausdruck brächten, nun einzustellen seien. Die »Vergeltung« werde auf gesetzlichem Wege erfolgen. 15 Die angekündigte Ablösung »spontaner« Gewaltakte durch »geordnete« staatliche Maßnahmen folgte dem Muster, das bereits bei den ersten beiden antisemitischen Wellen von 1933 und 1935 angewendet worden war. Der gewalttätige Straßenmob stehe jedoch auf Abruf bereit, machte der Völkische Beobachter deutlich, der direkt unter dem Aufruf Goebbels’ auf dem Titelblatt eine weitere, unmissverständliche Drohung anfügte: »Auf jeden Fall soll nicht versäumt werden, nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass bei einer Herausforderung durch das Weltjudentum das deutsche Volk kaum wieder so glimpflich mit den Verbrechern abrechnen wird.« 16
    Andere Zeitungen folgten diesem Beispiel, so das ehemals liberale Berliner Tageblatt vom gleichen Tag: »Und es ist unschwer zu übersehen, dass eine weitere Fortsetzung der Verleumdungszüge gegen das Reich fraglos noch weitreichendere Aktionen zur Folge haben müsste.« Das katholische Bamberger Volksblatt drohte am 14. November, das »ganze Judentum (solle) wissen, dass, falls noch einmal ein Deutscher im Reich oder irgendwo in der Welt von einem Juden angegriffen werden sollte, die Vergeltung noch ganz anders ausfallen kann und wird«.

Reaktionen der Bevölkerung
    Trotz der von der NS-Propaganda immer wieder aufgestellten Behauptung, die »Reichskristallnacht« sei auf den spontan zum Ausbruch gekommenen »Volkszorn« zurückzuführen, ist der Befund eindeutig: Der Pogrom vom 9. und 10. November 1938 war eine organisierte Aktion der Partei; er wurde von SA- und SS-Männern, Parteiaktivisten und HJ-Angehörigen durchgeführt. Dies ergibt sich nicht nur aus der großen Zahl von mittlerweile erschienenen Studien zum Pogrom, sondern auch aus zeitgenössischen Dokumenten. Ausdrücklich hielt der zusammenfassende Bericht der Judenabteilung des SD-Hauptamtes für den Monat November 1938 denn auch fest: »Die Zivilbevölkerung hat sich nur in ganz geringem Maße an den Aktionen beteiligt.« 17 Der Bielefelder Landrat konstatierte lakonisch: »für eine spontane Kundgebung sei »die Zerstörung der Synagogen etc. um 1 Tag zu spät« gekommen. 18
    Dennoch findet sich eine ganze Reihe von amtlichen Berichten, die den Pogrom, entsprechend der offiziellen Sprachregelung, als spontanen Vergeltungsakt der Bevölkerung darstellen wollten – mit Blick auf das Gesamtmaterial eindeutig eine Minderheitenposition. Dazu angetan, die offizielle Darstellung der Ereignisse gebetsmühlenhaft und geflissentlich zu bestätigen, eröffnen sie jedoch einen bezeichnenden Einblick in die Qualität dieser Art von Berichterstattung über die »Volksmeinung«. 19
    In meist recht pauschaler und knapper Form wird hier lediglich eine allgemeine Zustimmung »der Bevölkerung« zum Pogrom und zu den anschließend getroffenen antijüdischen Maßnahmen verzeichnet. 20 Bemerkungen wie die der Gendarmerie Amberg, die »spontanen Vergeltungsaktionen gegen die Juden wurden von der Bevölkerung mit Ruhe und innerer Freude hingenommen«, oder die der Gendarmerie im niederbayerischen Kronwinkel, es seien »negative Äußerungen nicht bekannt geworden«, sind charakteristisch für die Oberflächlichkeit dieser Berichte. 21
    So gehen denn auch die Historiker, die sich mit der Reaktion der Bevölkerung auf den Pogrom beschäftigt haben, übereinstimmend davon aus, dass die Bevölkerung mehrheitlich negativ auf die Ausschreitungen reagiert habe; dabei habe allerdings weniger Sympathie mit den Juden eine Rolle gespielt, als vielmehr die Kritik an der mutwilligen Zerstörung von Sachwerten im Vordergrund gestanden. Die nach dem Pogrom eingeführte

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