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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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»Aufklärung« über die Folgen der Kennzeichnungspflicht musste notwendigerweise dazu führen, dass Kritik aus der Bevölkerung zu viel Platz eingeräumt und so ungewollt im Rahmen der kontrollierten öffentlichen Meinung eine Plattform für Gegenstimmen geschaffen wurde.
    Dies galt es jedoch unter allen Umständen zu verhindern. Das Propagandaministerium erklärte zwar am 28. September auf der Pressekonferenz, der »Aufklärungsfeldzug gegen das Judentum könne jetzt gestartet werden«, doch ein Blick in die Presse zeigt, dass dieser »Feldzug« zumindest in diesem wichtigen Medium zunächst ausblieb. Stattdessen geschahen höchst ungewöhnliche Dinge: Die Gaupropagandaleitung Danzig-Westpreußen schickte beispielsweise die Sendung mit dem Flugblatt »Wenn Du dieses Zeichen siehst«, das anlässlich der Kennzeichnung der Juden an alle Haushalte verteilt werden sollte, mit der Begründung nach Berlin zurück, dass man »auf dem Standpunkt stünde, die Verbreitung dieses Flugblatts würde nur Unruhe in die Bevölkerung hineintragen«. Die Bevölkerung, so die weiteren Ausführungen, könne zu dem Schluss kommen, dass sich im Gau noch »eine große Anzahl Juden befinden«. 69
    Entgegen der Ankündigung spielte das Thema bis Ende Oktober in den Presseanweisungen eine relativ untergeordnete Rolle. 70 Entsprechend ging auch die Zahl der antisemitischen Beiträge in den meisten Zeitungen im Monat Oktober gegenüber dem September deutlich zurück. 71 Dafür war mit Sicherheit eine gewisse Irritation der Propagandisten angesichts der negativen Aufnahme der Kennzeichnung in der Bevölkerung verantwortlich. Verschärft wurde diese Verunsicherung jedoch noch durch einen weiteren Faktor.
    Auf dem Höhepunkt der Stimmungskrise Mitte September hatte Hitler einen weiteren, folgenschweren Entschluss in der »Judenpolitik« gefasst: die Entscheidung zur Deportation der deutschen Juden, eine Maßnahme, die er noch im August auf die Zeit nach dem Ende des Ostfeldzuges hatte verschieben wollen. 72 Am 18. September instruierte Himmler den Gauleiter im Warthegau, Arthur Greiser, Hitler wünsche, dass »möglichst bald das Altreich und das Protektorat vom Westen nach dem Osten von Juden geleert und befreit werden«; die ersten 60 000 Juden seien bereits während des kommenden Winters im Ghetto von Lodz unterzubringen.
    Die Motive für diese Entscheidung Hitlers sind komplex und können hier nicht im Detail erörtert werden: Moskaus Entschluss, die Wolgadeutschen nach Sibirien zu deportieren, lieferte den Vorwand; 73 das Motiv, die deutschen Juden für den erwarteten Kriegseintritt der Vereinigten Staaten als Geiseln zu nehmen, 74 ist ebenso nachweisbar wie die Überlegung, »Judenwohnungen« in den vom Luftkrieg bedrohten Städten »freizumachen«, um so »die Juden« ostentativ als Drahtzieher der Bombenkrieges anzuprangern. 75 Vor allem aber ging Hitler mit seiner Entscheidung vom September 1941 daran, den ursprünglichen, seit Anfang des Jahres verfolgten Plan zur Deportation der Juden in die zu besetzenden Ostgebiete zu realisieren. Der Termin für den Beginn der Deportationen – Mitte Oktober – entsprach exakt dem Zeitpunkt, den Hitler im Juni 1941 für den deutschen Sieg im Ostfeldzug ins Auge gefasst hatte. 76 Offensichtlich verfolgte er also die Absicht, angesichts des sich andeutenden Scheiterns des »Blitzkrieges« gegen die Sowjetunion die künftige Führung des Krieges, der länger und blutiger zu werden drohte als ursprünglich angenommen, ganz unter das Motiv eines Kampfes gegen »die Juden« zu stellen.
    Es scheint, dass die Kennzeichnung, mit der Goebbels das Ziel verfolgt hatte, die Juden sichtbar zu machen, um sie ostentativ »aus der Öffentlichkeit« zu entfernen, durch die mittlerweile ergangene Deportationsentscheidung Hitlers in propagandistischer Hinsicht überholt worden war. Goebbels war zwar immer davon ausgegangen, dass Berlin bald »judenfrei« werden würde, aber dass zwischen der Kennzeichnung und dem Beginn der Deportationen nur wenige Wochen liegen würden, damit hatte er offensichtlich nicht gerechnet. Die Deportationen sollten aber – wie wir sehen werden – gerade nicht öffentlich herausgestellt werden, sondern die Juden sollten weitgehend unbemerkt »verschwinden«; aus propagandistischer Sicht war es daher kontraproduktiv, die Juden im September »sichtbar« zu machen, um dann ab Oktober mit der Frage konfrontiert zu werden, wo die Sternträger denn geblieben seien. Und die reservierte bis

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