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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Öffentlichkeit neu auszurichten: Mit der Sichtbarmachung der in Deutschland lebenden Juden durch den Gelben Stern wurde das Verhalten der deutschen Bevölkerung gegenüber den gekennzeichneten Juden – die laut Propaganda wie die angeblichen jüdischen Hintermänner kommunistischer Gräuel im Osten und Kriegstreiber im Westen die Vernichtung des deutschen Volkes anstrebten – zum Gradmesser für ihre Akzeptanz der antijüdischen Propagandakampagne. Denn die endgültige Verdrängung der Juden aus der »Öffentlichkeit«, die sich Goebbels von der Kennzeichnung erhoffte, war ja nur dann möglich, wenn die übrige Bevölkerung den Sternträgern abwehrend und feindselig begegnete. Selbst kleine Gesten der Solidarität mit den gekennzeichneten Juden konnten nun als Kritik an der Politik des Regimes interpretiert werden, »die Juden« zum eigentlichen Hauptfeind im sich abzeichnenden Weltkrieg zu erklären.
    Zur gleichen Zeit machte das Regime in der brennenden »Euthanasie«- und Kirchenfrage einen Rückzieher. Bereits Ende Juli hatte Hitler die weitere Beschlagnahme kirchlicher Vermögen untersagt. 59 Am 22. August besprach Goebbels mit dem westfälischen Gauleiter Alfred Meyer die »Kirchenlage«. 60 Er riet Meyer, sich abwartend zu verhalten: »Die Kirchenfrage ist nach dem Kriege mit einem Federstrich zu lösen. Während des Krieges lässt man besser die Finger davon; da kann sie nur als heißes Eisen wirken. Im allgemeinen stehe ich auf dem Standpunkt, dass es überhaupt nicht zweckmäßig ist, mit einer Nadelstichpolitik zu arbeiten. Das Volk ist jetzt mit schweren Sorgen beladen, dass man auch schon aus Gerechtigkeitsgründen bestrebt sein muss, diese Sorgen nicht noch künstlich zu vergrößern und zu vermehren. Ob es überhaupt richtig gewesen ist, die Frage der Euthanasie in so großem Umfang, wie das in den letzten Monaten geschehen ist, aufzurollen, mag dahingestellt bleiben.« Bereits in diesem Gespräch ging Goebbels davon aus, dass der Massenmord an Patienten zu Ende ging: »Jedenfalls können wir froh sein, wenn die daran geknüpfte Aktion zu Ende ist. Notwendig war sie.« Am 24. August wurde die »Euthanasie«-Aktion dann offiziell auf Anordnung Hitlers eingestellt, eine Entscheidung, die unter dem Eindruck der anschwellenden Proteste zustande kam, aber auch sicher darauf zurückzuführen ist, dass die »Euthanasie«-Planer zu diesem Zeitpunkt ihre zu Kriegsbeginn anvisierten Ziele als erfüllt betrachten konnten. 61 Tatsächlich sollten die Morde an Anstaltspatienten in dezentraler und sorgfältiger getarnter Form weitergehen.
    Noch während Goebbels Ende August die Propagandakampagne zum Inkrafttreten der Kennzeichnungsverordnung im September vorbereitete, registrierte das Regime den Beginn einer erneuten Stimmungskrise, die zwei bis drei Wochen anhalten sollte: Demzufolge hatte die Bekanntgabe der militärischen Erfolge zu Beginn des Monats die Skepsis in der Bevölkerung nicht wirklich ausräumen können, 62 denn es wurde immer offenkundiger, dass der deutsche Vormarsch trotz aller Siegesmeldungen in absehbarer Zeit nicht zu dem entscheidenden, den Krieg beendenden Schlag gegen die Rote Armee führen würde. 63 Die Tatsache, dass dieser wiederholte allgemeine Stimmungseinbruch genau in den Zeitraum fiel, in dem die Kennzeichnungsverordnung mit großem propagandistischem Aufwand in Kraft gesetzt wurde, wirkte sich negativ auf die Reaktion der Bevölkerung auf diese erneute Radikalisierung der Judenverfolgung aus.

Die Juden werden gekennzeichnet: Propaganda und Reaktionen der Bevölkerung
    Goebbels war zunächst entschlossen, die Propaganda zur Einführung des Gelben Sterns Ende September noch zu steigern, um eine allgemeine Eskalation der antijüdischen Politik voranzutreiben, zumal er bei einem Besuch im Führerhauptquartier am 23. September den Eindruck gewann, es werde bald mit der Deportation der Berliner Juden begonnen. 64
    Die Reaktion auf die Kennzeichnung blieb jedoch hinter den Erwartungen des Propagandaministers zurück, wie dem Protokoll der Propagandakonferenz vom 25. September zu entnehmen ist: »Es liegen Meldungen vor, dass bei einem Teil der Bevölkerung – ganz besonders den so genannten besseren Schichten – die Judenabzeichen Mitleidsäußerungen erregt haben. Dr. Goebbels hat daher angeordnet, dass sofort eine großzügige Aufklärung auf diesem Gebiet durchgeführt wird. Die gesamte Presse und der Rundfunk haben sich mit dem Thema zu befassen. Hierbei soll aufgezeigt werden,

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