Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
Vom Netzwerk:
ablehnende Aufnahme der Kennzeichnungsverordnung, die Goebbels bei den Berlinern konstatierte, ließ es erst recht nicht ratsam erscheinen, das antisemitische Thema propagandistisch weiter zu strapazieren.
    Die ganz überwiegend negative Reaktion 77 auf die Kennzeichnungsverordnung zumindest in Teilen der Bevölkerung wird durch eine Reihe von zeitgenössischen Beobachtern bestätigt. Elisabeth Freund, selbst von der Kennzeichnung betroffen, berichtet in Aufzeichnungen, die sie wenige Monate später anfertigte, die Berliner Bevölkerung missbillige in ihrer Mehrheit den Judenstern: »Die Judensterne sind nicht populär. Das ist ein Misserfolg der Partei, und dazu kommen die Misserfolge an der Ostfront.« 78
    Die bereits erwähnte Ruth Andreas-Friedrich, eine Nichtjüdin, die in Berlin dem Widerstand angehörte, hielt mit Datum vom 19. September 1941 in ihrem Tagebuch fest: »Es ist soweit. Die Juden sind vogelfrei. Als Ausgestoßene gekennzeichnet durch einen gelben Davidstern, den jeder von ihnen auf der linken Brustseite tragen muss. Wir möchten laut um Hilfe schreien. Doch was fruchtet unser Geschrei? ›Jude‹ steht in hebräischen Schriftzügen mitten auf dem Davidstern, ›Jude‹ höhnen die Kinder, wenn sie einen so Gezeichneten durch die Straßen wandern sehen. ›Schämt euch!‹ schnauzt Andrik zwei solche Lümmel an und haut ihnen ein paar rechts und links hinter die Ohren. Die Umstehenden lächeln zustimmend. Wie ertappte Sünder schleichen die Bengel beiseite. Das Gros des Volkes freut sich nicht über die neue Verordnung. Fast alle, die uns begegnen, schämen sich wie wir. Und selbst der Spott der Kinder hat mit ernsthaftem Antisemitismus wenig zu tun. Sie spotten, weil sie sich einen Spaß davon versprechen. Einen Spaß, der nichts kostet, da er auf Kosten von Wehrlosen geht. Es liegt kein großer Unterschied darin, ob man Fliegen die Beine ausreißt, Schmetterlinge aufspießt oder Juden ein Schimpfwort nachruft.« 79
    Die Berlinerin Ingeborg Tafel schrieb ihrem Ehemann, einem Offizier, am 21. September 1941: »Seit dem 19. September müssen Juden einen gelben Stern auf der linken Brustseite tragen. Wie schrecklich, ›gekennzeichnet‹ zu sein – es kommt mir vor wie ein Kainsmal.« 80 Ulrich von Hassell, der dem Widerstand angehörende, nicht mehr im aktiven Dienst befindliche deutsche Diplomat, hielt den gleichen Eindruck in seinem Tagebuch fest, nannte aber auch ein Gegenbeispiel. 81
    Eine jüdische Lehrerin, der es Ende 1941 noch gelang, Deutschland zu verlassen, berichtet in Notizen, die sie kurz nach dem Grenzübertritt anfertigte, die Bevölkerung habe durchaus unterschiedlich auf den Stern reagiert. Besonders von Kindern seien antisemitische Bemerkungen zu hören gewesen, während Erwachsene sich häufiger negativ über die Kennzeichnung geäußert hätten. 82
    Else Behrend-Rosenfeld, eine in München lebende Jüdin, machte zwei Tage nach Einführung der Kennzeichnung folgende Beobachtung: »Die meisten Leute tun, als sähen sie den Stern nicht, vereinzelt gibt jemand in der Straßenbahn seiner Genugtuung darüber Ausdruck, dass man nun das ›Judenpack‹ erkennt. Aber wir erlebten und erleben auch viele Äußerungen der Abscheu über diese Maßnahme und viele Sympathiekundgebungen für die Betroffenen.« Behrend-Rosenfeld schildert weitere Solidaritätsgesten und fährt dann fort: »Mir scheint, dass jedenfalls in München die jetzigen Machthaber mit dieser Verfügung nicht erreichen werden, was sie bezwecken: die vollkommene Verfemung der Juden durch die Menge des Volkes.« Am 26. Oktober heißt es: »Die Bevölkerung tut, als sähe sie die Sterne nicht. Viele Freundlichkeiten in der Öffentlichkeit und noch viel mehr im geheimen werden uns erwiesen. Äußerungen der Verachtung und des Hasses uns gegenüber sind selten.« 83
    Wie Behrend-Rosenfelds Aufzeichnungen zeigen, wurde das ostentative Übersehen des Sterns von einer Betroffenen keineswegs als Ausdruck der Indifferenz gegenüber den Verfolgten gewertet, sondern als demonstrative Ablehnung der Kennzeichnung. Vergegenwärtigt man sich die zitierte »Empfehlung« des Stuttgarter NS-Kuriers vom 3. Oktober, durch die gekennzeichneten Juden »wie Luft« hindurchzusehen, um damit seine Verachtung zum Ausdruck zu bringen, so wird deutlich, wie nuancenreich und interpretationsfähig zur Schau getragene Indifferenz sein kann.
    Jochen Klepper, der mit einer Jüdin verheiratete und an seiner Berufsausübung verhinderte Journalist, dessen aus

Weitere Kostenlose Bücher