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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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was wir Deutschen den Juden zu verdanken haben. Die Juden sollen als die maßgeblichen Verbreiter der Hetz- und Revanchepolitik herausgestellt werden, ihr Anteil an diesem Krieg mit dem Ziel der Vernichtung Deutschlands an Hand von Unterlagen und Aussprüchen der Juden bewiesen werden. In diesem Zusammenhang gab Dr. Goebbels seiner Empörung über diese so genannten besseren Kreise, die in jedem Fall seit 1933 immer wieder versagt haben, Ausdruck: ›Der deutsche Bildungsspießer ist schon ein Dreckstück.‹« Goebbels habe sich dabei, so der Berichterstatter der Reichspropagandaleitung, auf die »so genannte Intelligenzpresse« bezogen. 65
    Am nächsten Tag ging der Sprecher des Propagandaministeriums das Thema auf der Pressekonferenz an: Es gebe eine »gewisse Mitleidswelle« mit den Juden, und zwar hauptsächlich in den »Kreisen der Intelligenzbestien«. Es sei notwendig, »mit aller Schärfe dieses Thema aufzugreifen und dem deutschen Volke klarzumachen, was das Judentum ihm bereits angetan habe und antun würde, wenn es die Macht dazu hätte«. Allerdings sei mit Vorsicht vorzugehen: Man möge das Problem »nun nicht in der gesamten Presse mit einem Schlage« aufgreifen, sondern es »gelegentlich behandeln«. 66
    In der Parteipresse lässt sich eine Reihe von Beiträgen finden, die verdeutlichen, wie sehr die Nationalsozialisten durch die ablehnende Reaktion des Publikums auf die Kennzeichnungsverordnung in die Defensive gerieten. So erschien zum Beispiel im Stuttgarter NS-Kurier vom 3. Oktober 1941 ein Beitrag, in dem eine Szene aus einer überfüllten Straßenbahn geschildert wird: Als eine Frau laut forderte, ein mit dem Stern gekennzeichneter Passagier solle gefälligst »Platz machen«, erhoben sich doch, so der Artikel »mehrere Stimmen, die nichts weniger meinten als dies, dass ›der Jude auch ein Mensch‹ sei«. Der Autor des Beitrags empfahl als »ein probates Mittel gegen falsches Mitleid und falsche Menschlichkeit« den von ihm selbst »lange geübte(n) Brauch, den Juden überhaupt nicht zu sehen, durch ihn hindurchzublicken, als wäre er aus Glas oder weniger als Glas, als wäre er Luft, selbst dann, wenn der gelbe Stern mich auf ihn aufmerksam machen möchte«. Was hier dem Publikum »empfohlen« wird, ist genau jene Haltung, die zeitgenössische Beobachter in den folgenden Monaten in deutschen Verkehrsmitteln als vorherrschende Haltung gegenüber jüdischen Mitreisenden ausmachten. Fünf Tage später, am 8. Oktober, kam der Lokalredakteur des Stuttgarter NS-Kurier s noch einmal auf das Thema zurück. Unter der Überschrift »Es ist doch schlimmer« teilte er seinen Lesern mit, eine »große Zahl von Anrufen und Leser-Briefen hat mir indessen bewiesen, dass ich mich im Irrtum befand, als ich annahm, falsches Mitleid und schlecht angewandte ›Menschlichkeit‹ gegenüber besternten Juden seien Einzelerscheinungen«. Zur Illustration zitierte er die Zuschrift einer älteren Nationalsozialistin, die sich darüber beschwerte, es würde nach wie vor alten Jüdinnen in der Straßenbahn der Platz frei gemacht und man könne immer wieder beobachten, dass Juden durch »arische« Bekannte auf der Straße ostentativ begrüßt würden und dass man ihnen Mut zuspreche. Bei einer dieser Gelegenheiten, so die Briefschreiberin, habe sie den Satz aufgeschnappt: »Es gehört wahrlich mehr Mut dazu, diesen Stern zu tragen, als in den Krieg zu ziehen.« Der Stuttgarter NS-Kurier zögerte nicht, diese Äußerung als besonders verabscheuungswürdig anzuprangern. 67
    Der Westdeutsche Beobachter veröffentlichte am 26. Oktober 1941 den Bericht einer seiner Mitarbeiter über ein Erlebnis in Berlin. Ein Bekannter, der als loyaler Nationalsozialist und Antisemit vorgestellt wird, habe ihm anvertraut, eigentlich habe ihm »die Sache mit dem Judenstern« zunächst nicht behagt, er habe die Einführung der Kennzeichnung als überflüssig angesehen. Um seinen mittlerweile eingetretenen Sinneswandel zu erklären, habe der Bekannte ihn dann zu einem gemeinsamen Spaziergang durch Wilmersdorf eingeladen, wo sich schon beim ersten Augenschein zeigte, dass er »im Getto« lebe, denn im Stadtviertel ergebe sich auf Schritt und Tritt immer der gleiche Eindruck: »Die gelben Fünfzacks beherrschten das Bild.« Der Bekannte, so versichert der Autor, habe nun die Notwendigkeit der Kennzeichnung vollkommen eingesehen. 68
    Die Artikel veranschaulichen die Schwierigkeiten der Propaganda im Umgang mit dem Thema: Eine zu intensive

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