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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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der ersten Ehe der Frau stammende Tochter den Stern tragen musste, bestätigt diese negative Haltung der Bevölkerung gegenüber der Kennzeichnung. 84
    Auch Victor Klemperer vermerkte in seinem Tagebuch in diesen Wochen überwiegend Einträge, die die negative Einstellung der Bevölkerung zur Sternpflicht dokumentieren. »Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde«, notierte er am 4. Oktober. 85 Generell ist jedoch bei solchen Stellungnahmen zu berücksichtigen, dass Sternträger bevorzugte Adressaten regimekritischer Äußerungen waren, da man von ihnen keine Denunziation erwartete. Am 25. September 1941 hielt Klemperer die Äußerung eines Straßenbahnfahrers ihm gegenüber fest: »Ganz gut, Ihr Zeichen, da weiß man, wen man vor sich hat, da kann man sich mal aussprechen.«
    Howard K. Smith, der bis Ende 1941 als amerikanischer Korrespondent in Deutschland arbeiten konnte, kam in einem nach seiner Rückkehr in die USA veröffentlichten Buch zu der Schlussfolgerung, die Kampagne zur Einführung des Gelben Sterns sei »ein monumentaler Misserfolg« gewesen; die Bevölkerung habe durchgängig durch kleine Gesten ihre Sympathien mit den Sternträgern und ihre Missbilligung der Kennzeichnung zum Ausdruck gebracht. Die Empörung sei auch von überzeugten Parteianhängern geteilt worden. Goebbels habe mit seinen Propagandamaßnahmen den Rassegedanken »für alle Zeiten ruiniert«. 86 Ähnlich wie Behrend-Rosenfeld beobachtete Smith, dass die Menschen den Sternträgern meist mit gesenktem Kopf begegneten. Smith erklärte diese Verhaltensweise teils mit Schamgefühlen, teils mit dem Motiv, den Juden das Gefühl des Angestarrtwerdens ersparen zu wollen.
    Der schwedische Zeitungskorrespondent Arvid Fredborg schilderte ähnliche Eindrücke: »Die Bevölkerung von Berlin reagierte auf den Davidstern in einer Art und Weise, die den Propagandamachern einigen Stoff zum Nachdenken gegeben haben muss. Immer wieder gab es kleine Sympathiekundgebungen für die Juden, und die stoische Ruhe, mit der sie ihr Schicksal ertrugen, verfehlte nicht ihre Wirkung, sogar auf die fanatischsten Nazis.« 87
    Der für die militärische Abwehr arbeitende Regimegegner Helmuth James von Moltke schließlich schrieb am 18. November an seine Frau zur »Lage im Innern«: »Durch Judenverfolgung und Kirchensturm ist eine rasende Unruhe hervorgerufen worden.« 88
    Diese Zeugnisse verleihen der Episode einige Glaubwürdigkeit, die Speer in den Spandauer Tagebüchern schildert. Goebbels habe sich anlässlich eines Mittagessens bei Hitler über die Berliner beklagt: »Die Einführung des Judensterns hat genau das Gegenteil von dem bewirkt, was erreicht werden sollte, mein Führer! Wir wollten die Juden aus der Volksgemeinschaft ausschließen. Aber die einfachen Menschen meiden sie nicht, im Gegenteil, sie zeigen überall Sympathie für sie. Dieses Volk ist einfach noch nicht reif und steckt voller Gefühlsduseleien!« 89
    Eine vom britischen Foreign Office angelegte Sammlung von Berichten mit Nachrichten aus Deutschland 90 bestätigt den Befund: In einer Zusammenfassung des Central Department im Foreign Office vom November 1941 heißt es, »Juden scheinen eine freundlichere Behandlung seitens der Deutschen zu erfahren«. 91 Auch die britische Post- und Telegraphenzensur, die abgefangene Briefe aus Deutschland und Briefe mit Informationen über Deutschland aus neutralen Ländern auswertete, kam im März 1942 zu der Schlussfolgerung, dass »das Tragen des Judensterns exakt das Gegenteil von dem zur Folge hatte, was man erwartet hatte, nämlich eine wesentlich freundlichere und hilfsbereitere Verhaltensweise der anderen«. 92
    Daneben finden sich in den Akten des Foreign Office Berichte verschiedener britischer Auslandsmissionen, die Beobachtungen von Personen weitergaben, die sich aus unterschiedlichen Gründen in Deutschland aufgehalten hatten. Auch diese Augenzeugenberichte deuten auf Ablehnung der Kennzeichnungspflicht hin; die Menschen seien den Sternträgern mit Scham und Gesten des Mitgefühls begegnet. Diese übereinstimmenden Einschätzungen stammten von ganz unterschiedlichen Personen: einem amerikanischen Zeitungskorrespondenten, 93 einem Informanten, der sich drei Wochen in Deutschland aufgehalten hatte und von dort nach Schweden ausgereist war, 94 einem Österreicher, der anlässlich eines Schweiz-Besuches mit dem dortigen britischen Militärattaché zusammengekommen war, 95 sowie einer Schwedin, die soeben von einem Besuch in

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