Dawning Sun (German Edition)
geschlafen, zu viel nachgedacht, zu heftig gegen die Verzweiflung gekämpft. Planlos schwankte er durch den kleinen Raum. Eine Dusche half, einigermaßen klar zu werden. Die Orientierungslosigkeit wurde von Sorge verdrängt. Wo war Tom? Hatte er sich etwas angetan? War ihm etwas passiert? Bei diesen Temperaturen lief doch niemand stundenlang draußen herum!
Um sich zu beschäftigen, beschloss Josh, ein wenig aufzuräumen. Dieses Zimmerchen war nicht für zwei Personen gedacht!
Seine eigenen Sachen waren rasch zusammengefaltet und ordentlich verstaut. Tom hatte anscheinend gestern Abend noch gezeichnet, nachdem er, Josh, eingeschlafen war. Er räumte die Stifte in das schön geschnitzte Holzkästchen, das Tom für diese Zwecke auf dem Schreibtischersatz stehen hatte. Ein wahrer Künstler hatte sie mit Blütenornamenten versehen, sie war fast zu schade für so etwas Profanes wie Zeichenstifte. Zuletzt lag bloß noch Toms Zeichenmappe auf dem Boden. Eigentlich war es schon eher ein ganzes Buch von erheblicher Dicke. Der schwarze Ledereinband hatte es jedenfalls schwer, die zahllosen Klarsichthüllen zu bedecken, die allesamt eines von Toms Kunstwerken enthielten. Es juckte in Joshs Fingern, die Zeichnungen zu betrachten. Tom war wirklich ein großartiger Maler, und womöglich hatte er auch dieses Kästchen selbst erstellt. Doch er hatte gesehen, wie ungern Tom seine Bilder teilte und beschloss, ihn erst um Erlaubnis zu bitten. Er wollte alles vermeiden, was ihn in die Flucht schlagen könnte.
Ein Blatt lag umgedreht auf dem Boden. Er haderte ein wenig, hob es schließlich auf – und ließ es sogleich wieder fallen. Schockiert starrte er auf dieses Bild. Nur langsam drangen die Details in sein Bewusstsein vor: Da war er selbst, nackt und gefesselt auf einem Bett liegend. Das Gesicht war eine Maske aus Grauen und Schmerz, der Ausdruck so täuschend echt gezeichnet, dass Josh sich unwillkürlich über die Wangen fuhr. Der Mund war zu einem Schrei geöffnet, Josh konnte das Bitte nicht, bitte nicht! regelrecht von den Lippen lesen. Der Grund für diese Qualen war offensichtlich: Sein papierenes Ich wurde gerade grausam vergewaltigt. Das Gesicht seines Peinigers war nicht zu erkennen, aber die langen Haarsträhnen als Kontrast zum kurz rasierten restlichen Schädel ließen keinen Raum für falsche Hoffnungen.
Wie von selbst öffnete sich die Zeichenmappe. Josh betrachtete das Deckblatt mehrere Minuten lang, es half, seinen Atem zu beruhigen und den Würgereiz zurückzudrängen.
Dreams, stand dort in wunderschöner verschnörkelter Schrift. Üppige Ornamente bildeten eine Umrahmung, bestehend aus zahllosen Details. Josh sah Blüten, aus denen winzige Vögel tranken, liebliche Gesichter von feenartigen Wesen, die zwischen den Ranken hervorlugten, die schemenhafte Andeutung einer bezaubernden Landschaft als Hintergrund. Unsicher, was er erwarten sollte, zögerte er eine ganze Weile, bevor er umblätterte. Das erste Bild war eine Studie seines Gesichtes. Der Schmerz in den Augen brannte so intensiv, dass er mit dem Papier-Josh zu weinen begann. Auf dem nächsten Bild lag er auf den Knien vor einem nackten Mann, von dem nur die Rückenansicht erkennbar war, und bettelte um Gnade.
Josh schluchzte, während er eine Zeichnung nach der anderen betrachtete. Es gab ausschließlich dieses eine Motiv: Ihn selbst, wie er von Tom gefoltert, gequält, gedemütigt und sexuell in jeglicher denkbaren Pose missbraucht wurde. Es mussten hunderte Bilder in dieser Mappe sein. Das Schlimmste wurde ihm erst spät bewusst: Alle Zeichnungen waren mit Signatur und Datum versehen. Sie reichten über ein Jahr zurück. Tom träumte also bereits seit ewigen Zeiten davon, ihn zu vergewaltigen!
Josh stürzte ins Bad und erbrach die letzten Reste des Abendessens, mit dem Tom ihn gefüttert hatte. Immer wieder revoltierte sein Magen, bis nur noch Gallenflüssigkeit kam. Danach sank er auf den kalten Fliesen zusammen, weinte, schrie, weinte weiter, bis er keine Kraft mehr hatte. Was genau ihn zurück in den Raum trieb, wusste er nicht. Vielleicht hatte er gespürt, dass er nicht länger allein war? Jedenfalls stand Tom mitten im Zimmer, die Arme verschränkt, und wartete auf ihn.
„Seit wann bist du zurück?“, stieß Josh hervor, nachdem er diesen Fremden minutenlang angestarrt hatte. Diesem Monster, dem er vertraut hatte!
Tom zuckte achtlos die Schultern.
„Du warst noch hiermit beschäftigt.“ Er wies mit dem Kinn auf die Zeichenmappe zu seinen
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