Days of Blood and Starlight
den Angeln klemmten. Karou hoffte inständig, dass die Vorrichtung halten würde.
Schritte näherten sich, und das leise Kratzen von Klauen auf der Treppe wurde langsam lauter.
Der Räucherkegel war angezündet. Karous Hände zitterten, als sie ihn vorsichtig auf die Augenbraue des unlebendigen Körpers setzte. Rauch stieg in einer gekräuselten Spirale auf und zerfaserte, als Karous Atem darüberstrich. Der Geruch nach Schwefel hing schwer in der Luft; er hatte Brimstone seinen Namen gegeben. Brimstone – Schwefel. Karou fragte sich, wie er geheißen hatte, bevor er der Wiedererwecker wurde, als er noch ein Gefangener in den Schmerzgruben der Magi gewesen war.
Die Tür bebte leicht, als Ten sie zu öffnen versuchte und auf unerwarteten Widerstand stieß. Einen Moment herrschte verblüffte Stille, dann krachte eine Faust gegen das Holz. »Karou?«
Sie hob abrupt den Kopf. Das war nicht Ten. Es war Thiago. Verdammt.
»Ja?«, fragte sie betont gelassen.
»Ich wollte nur sehen, ob du etwas brauchst. Warum ist deine Tür verschlossen?«
Ja, wie kann das sein? Karou war nie dazugekommen, den Weißen Wolf nach ihrem verschwundenen Riegel zu fragen. Wenn er dachte, er hätte ihr lästiges Bedürfnis nach Privatsphäre aus der Welt geschafft, dann würde er bald lernen müssen, dass viele Wege nach Rom führten. Aber keiner in ihr Zimmer. »Moment«, rief sie.
Erneut herrschte Stille, während Karou mit dem Turibulum hantierte – sie zuckte zusammen, als die Kette rasselte, denn sie befürchtete, er könnte erraten, was sie hier machte –, dann hämmerte seine Faust erneut an die Tür. »Karou?«
»Bin sooofort da«, trällerte sie, und ihre Stimme übertönte das schabende Geräusch, als sie den Deckel des Turibulums aufschraubte.
Sie ging neben dem Körper auf die Knie. Beobachtete, wartete.
Langsam stieg die Seele aus dem Gefäß auf, überwältigte sie mit ihrer Präsenz. Sie war wie Glühwürmchen in einem Garten. Sie war wie Augen, die aus den Schatten aufleuchteten. Sie war wie Honig und Gift, wie fröhliches Lachen und tröstende Worte, wie geschlitzte Pupillen und weiche, sonnengewärmte Schlangenhaut.
Sie war Issa.
Karou war sich der Schläge ihres eigenen Herzens sehr bewusst, eins, zwei, drei; ein deutlich spürbarer, fast schmerzhafter Puls. Vier, fünf, und die Schlangenfrau öffnete ihre neuen Augen und blinzelte.
Karou unterdrückte ein Schluchzen; die Zeit stand still, das Schluchzen breitete sich in ihr aus. Thiago hämmerte fester gegen die Tür. »Lass mich rein.« Seine Stimme war betont ruhig, was seine aufkommende Wut jedoch nicht verbergen konnte. Karou antwortete nicht. Sie hielt Issas Blick.
Was hat sie durchgemacht? Wie ist sie gestorben? Wie viel weiß sie? Was wird sie sagen?
Der neue Körper der Schlangenfrau erwachte langsam zum Leben. Ihre Muskeln zogen sich zusammen, ihre Finger zuckten, ihr Herz schlug. Issas Brust hob sich, der erste Atemzug. Ihre Lippen öffneten sich, und gleich als sie zum ersten Mal ausatmete, da hauchte sie: »Mein süßes Mädchen.«
Nun war das Schluchzen nicht mehr aufzuhalten, und Karous Gesicht fand den Ort, nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte; Issas Hals, wo Menschenhaut in Kobraschuppen überging – die seltsame Mischung aus warm und kalt, die Karou kannte, seit sie ein Kind war und Issa sie auf einer Hüfte in den Schlaf gewiegt hatte, mit ihr gespielt und ihr das Zeichnen und Singen beigebracht hatte, sie wie eine Mutter geliebt hatte. Sie und Yasri waren beide ihre Mütter; sie hatten sie gemeinsam großgezogen. Twiga hatte in ihrem Leben nie eine große Rolle gespielt, aber Brimstone …
Brimstone. Als Karou am Fluss Issas Seele berührt hatte, hatte sie sofort gewusst, wer sie war, und eine Flut zwiespältiger Gefühle hatte sie überkommen: Euphorie und Niedergeschlagenheit, Liebe und Enttäuschung, Freude und wilde Verzweiflung. Keine der beiden Seiten hatte die Oberhand gewonnen. Selbst jetzt waren all diese Gefühle noch gleichermaßen da. Issa war nicht Brimstone, aber Issa war … Issa , und Karou kuschelte sich an sie und spürte, wie ihre Arme, zittrig und unsicher und neu, sich um sie legten und sie festhielten.
»Du hast mich gefunden«, flüsterte Issa, und ihre Worte stürzten Karou aus ihrer seltsamen Balance zwischen glücklich und traurig, und sie landete in purer Verwirrung. Denn nicht sie hatte die Schlangenfrau gefunden.
Sondern Akiva.
Aber jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Karou setzte sich
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