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de profundis

de profundis

Titel: de profundis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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schneiden Sie die Hälfte raus.«
    »Wir werden nichts rausschneiden.« Ich lächelte ihm zu und setzte mich in einen Sessel, er saß auf einem Stuhl und war aufgeregt. Die unschönen Hände hatte er auf den Tisch gelegt.
    »Kamera ab!«, rief Sumpf sich selbst zu.
    Da weder Kassette noch Batterien in der Kamera waren, hatte Sumpf nichts zu tun. Er guckte lediglich mit vorgestrecktem Hinterteil in das blinde Objektiv.
    »Iwan Grigorjewitsch!«, sagte ich mit erhobener Stimme. »Sie …«
    »Guten Tag, verehrte Zuschauer!«, unterbrach mich Iwan Grigorjewitsch.
    »Ja, ja«, sagte ich. »Nur, inwieweit ist er gut, dieser Tag?«
    Iwan Grigorjewitsch runzelte die Stirn.
    »In einer schweren Zeit leben wir, das stimmt.«
    »Und nun meine erste Frage: Erzählen Sie von Ihrer Kindheit.«
    »Ich bin Veteran«, begann Iwan Grigorjewitsch. »Ich habe vom ersten Kriegstag an Siege über die Faschisten errungen. Vor Warschau wurde ich verwundet. Nach dem Krieg habe ich unter Marschall Rokossowski in Polen Ordnung gemacht. Da gab es eine Menge Unredlichkeit.«
    Ich nickte unwillkürlich.
    »Der Sieg ist uns nicht in den Schoß gefallen.« Er stand abrupt vom Stuhl auf und verließ das Zimmer.
    »Was ist jetzt los?«, fragte Sumpf.
    Als Antwort ertönte ein fürchterlicher Furz aus dem Klo.
    »Er entleert sich«, sagte Sumpf. »Er scheißt gewaltig. Es ist Zeit.«
    »Warte«, sagte ich. »Interessant, was noch kommt.«
    »Wenn du meinst«, sagte Sumpf missbilligend. Ungefähr eine Viertelstunde nach seinem plötzlichen Verschwinden tauchte Iwan Grigorjewitsch unter Entschuldigungen wieder auf.
    »Es war sehr dringend«, erklärte er.
    »Iwan Grigorjewitsch!«, sagte ich und setzte ein telegenes Lächeln auf. »Wer ist Russlands größter Feind?«
    »Eine sehr weitsichtige Frage«, antwortete Iwan Grigorjewitsch anerkennend. »Ja, beinahe hätte ich's vergessen. Mir ist ein schreckliches Dokument in die Hände gefallen.«
    Iwan Grigorjewitsch zog einige handbeschriebene Blätter aus dem Schreibtisch und setzte die Brille auf. Er ähnelte auf einmal einem Rentner, der versucht, die Stromrechnung zu begreifen.
    »›Indem wir in Russland Chaos säen‹«, las er aufgeregt vor, »›ersetzen wir unmerklich seine wahren Werte durch falsche und veranlassen es, an diese falschen Werte zu glauben …‹ Die Pläne zur Zerstörung unseres Staates sind in der Nachkriegsdoktrin von Allan Dulles dargelegt. Und so empfiehlt der CIA-Chef, in unserem Lande vorzugehen: ›Szene für Szene wird die in ihrem Ausmaß grandiose Tragödie des Untergangs des widerspenstigsten Volkes der Welt sich abspielen.‹«
    »Der Untergang des widerspenstigsten Volkes?«, fragte ich nach.
    »Die Direktive wurde genauestens ausgeführt«, nickte der Schriftsteller unbarmherzig. »Wie? Hören Sie mal zu: ›Aus der Literatur und der Kunst zum Beispiel werden wir den sozialen Kern entfernen, wir werden den Künstlern ihre Lust austreiben, sich mit der Darstellung jener Prozesse zu befassen, die tief im Innern der Volksmassen vor sich gehen.«
    »Das ist ihnen gelungen«, stimmte Sumpf bereitwillig zu.
    »Alles fing schon unter Nikita an«, erklärte uns Iwan Grigorjewitsch. »Aber auch zu Breshnews Zeiten hat der CIA nicht die Hände in den Schoß gelegt. Jedes zweite Politbüromitglied war Freimaurer.«
    »Wer ist denn schuld am Zusammenbruch unserer Großmacht?«, rief ich aus.
    »Suslow!«, ließ sich eine schwache Stimme vernehmen. Wir blickten uns um und fuhren zusammen. Da stand eine dürre, hässliche Alte mit aufgelösten Haaren, schlichtem russischem Gesicht und blutigen Wattebäuschen in den Nasenlöchern. Sumpf küsste der Hausherrin mit der ihm eigenen Eleganz die Hand.
    »Sie ist taub«, sagte Iwan Grigorjewitsch. »Außerdem kommt bei ihr abends immer Blut aus der Nase. Ist aber nicht lebensgefährlich.«
    »Iwan!«, flüsterte Natalja Michejewna. »Wo sind wir? Ich habe dich verloren!«
    »Alles in Ordnung, Natascha!«, brüllte Iwan Grigorjewitsch sie an, die roten Lippen bewegend.
    »Suslow hat uns gezwungen, unter der Fuchtel von diesen Leuten hinterm großen Teich zu leben«, mischte sich Natalja Michejewna sanft ins Gespräch. »Er hat dieses Gesindel unterstützt, mit Medaillen und Heldensternen ausgezeichnet. Adshubej, der Schwiegersohn von Chruschtschow, hat den Leninorden bekommen. Oder der Journalist Juri Shukow – Held der sozialistischen Arbeit. Und wofür, für welches Meisterwerk?«
    Iwan Grigorjewitsch biss sich auf die Lippe und sah

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