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de profundis

de profundis

Titel: de profundis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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wobei er dem grellen Scheinwerferlicht auswich, blickte auf die Straße, und plötzlich fühlte er, dass dies nicht einmal mehr Moskau war, sondern einfach eine Stadt. Ohne Seele und Gewissen.
    »Also, sonst noch Fragen?«, sagte Iwan Grigorjewitsch leicht gereizt.
    »Lassen Sie uns unsere Meinungsverschiedenheiten präzisieren«, vernahm Iwan Grigorjewitsch seine eigene Stimme. Es war noch nicht lange her, dass Iwan Grigorjewitsch etwas Außergewöhnliches geträumt hatte. Es war, als hörte er seine eigene Stimme, die ihm selbst ein Traktat über die Ereignisse des Tages vorlas. Einige Thesen verblüfften ihn durch ihre Neuartigkeit.
    »Wir, das heißt unsere Zeitung nennt das den Oktoberumsturz«, stichelte jemand durchaus freundschaftlich.
    Ja. Das war Aljona. In einem glockigen, trapezförmigen Mantel von goldschimmernder Farbe, mit Beinen wie gemeißelt, in einer schwarzen Nerzmütze mit Ohrenklappen, so blieb sie voller Schneeflocken an der Schwelle stehen und sagte, ihre Verlegenheit bezwingend, mit singender Stimme:
    »Ich habe hochinteressantes Material gesammelt: die Namen der Passagiere, die zusammen mit Lenin im verplombten Waggon gefahren sind. Insgesamt einhundertneunundachtzig Personen. Davon waren nur neun Russen.«
    »Sie haben zweifellos Recht, Aljona, dass an der Spitze der Revolution vor allem Juden standen«, sagte Iwan Grigorjewitsch versöhnlerisch. »Die Kommunisten haben dem Volk das Paradies auf Erden versprochen und nur Armut gebracht. Ich selbst habe als Kind Bastschuhe getragen.«
    »Mein Lieber, Teurer, Sie mein einziger Bastschuh!«, sagte die Journalistin mit ungeheucheltem Gefühl.
    Unwillkürlich dachte sie an ihren Seemann aus Kronstadt, Igor. Verglich. Ein Unterschied wie Tag und Nacht. Da war der impulsive Aufschrei des Fleisches gewesen, eine auf ihre Art ungesunde Neugier, die an Erotomanie grenzte. Aber da war keine Feuersbrunst der Seele, kein Wahnsinn der Gefühle, die plötzlich über einem zusammenschlugen wie ein Orkan. Zu Igor empfand sie nicht einmal eine solche Zärtlichkeit wie zu Iwan Grigorjewitsch. Ein außergewöhnliches Naturtalent!
    Und das »außergewöhnliche Naturtalent« rannte in der Wohnung umher, aufgewühlt von einem Wirbelsturm angenehmer Gedanken. Ein grandioses, alles überwältigendes Gefühl beherrschte ihn uneingeschränkt und mächtig.
    »Meine Liebe zu dir ist universal.«
    »Oh, wie herrlich!«, rief Aljona aufgeregt.
    Gegen Ende des Abendessens waren beide Flaschen leer. Aljona, die Alkohol nicht gewöhnt war, hatte einen ordentlichen Schwips. Ohne den gerührten Blick von dem Geliebten abzuwenden, öffnete sie ihm ihre Seele und sagte vertraulich:
    »Wanka, du Parasit, zum ersten Mal im Leben liebe ich. Berühre bitte schnell mit deinem Schnäbelchen mein Brustwärzchen!«
    Mit einem Klicken öffnete sie energisch den strammen Verschluss ihres Büstenhalters und fixierte ihn mit den Augen eines Menschen, dem die Lüge fremd ist. Iwan Grigorjewitsch berührte die wohlgeformten Mädchenbrüste und sagte ohne Eile und mit gedämpfter Stimme:
    »Dabei hat es doch die Tschaikowskis und Mussorgskis gegeben, es gab Scholochow. Aber jetzt … Schnittke und Neiswestny, van Gogh und Brodsky. Sie säen Gemeinheit und Schmutz.«
    Aljonka spuckte nervös auf den Fußboden und stand auf.
    »Egal! Der Nebel wird sich verflüchtigen, ein neuer Marschall Shukow erscheinen, und die Sonne wird wie zuvor über unserem Vaterland nicht untergehen. Es ist spät, und ich bin berauscht. Ich lande womöglich noch in der Ausnüchterungszelle, und das wäre ein gefundenes Fressen für die Boulevardzeitungen.«
    »Du gehst nirgendwohin, ich lasse dich nicht gehen«, sagte er fest, wobei er dicht an sie herantrat.
    Und da erinnerte sich Iwan Grigorjewitsch an einen dunklen Fleck von der Größe eines Birkenblattes an ihrer Hüfte. Diesen Fleck hatte er zwar schon in der Badewanne bemerkt, jedoch dezent geschwiegen. Nun beschloss er, ein wenig neugierig zu sein.
    »Eine Brandwunde?«
    Aljona, die seinen Schnurrbart zauste, sagte verschmitzt:
    »Nein, ein Muttermal. Mein besonderes Kennzeichen.«
    Sie schmiegte sich an ihn, tastete an seiner Schulter nach dem Muttermal von der Größe einer Haselnuss und sagte hinterlistig:
    »Und du, das weiß ich ja seit meiner Kindheit, du hast doch auch einen Produktionsfehler …«
    »Ein Bekannter von mir, ein Chirurg, hat mir angeboten, es zu entfernen«, sagte er gequält, denn als Mensch der Kriegsgeneration genierte er sich

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