de profundis
Vorbeifahren
Im Viererabteil des Schlafwagens eines Fernzuges legte ein gutmütiger Bürger mit immergrünem Hut und braunem, nur durch den obersten Knopf geschlossenem Jackett frisch eingelegte Gürkchen, Tomaten, eine Dose Sprotten und zarte Quarkküchlein in platt gedrücktem Zustand aus seiner Aktentasche auf das Klapptischchen.
»Greifen Sie zu, essen Sie«, wandte er sich freigebig an seine Mitreisenden – einen jungen Mann mit saftigem Himbeermund, ein nett aussehendes junges Mädchen mit dicklichen Beinen und eine sympathische alte Frau in weißen Söckchen. Als Antwort auf seine Aufforderung zog die alte Frau drei hart gekochte Eier hervor, der junge Mann eine Flasche Portwein, und das Mädchen mit den dicklichen Beinen bot allen von ihren gedörrten Aprikosen an.
»Ich muss zugeben«, begann der Bürger mit Hut redselig, während er von einem der Eier der alten Frau die Schale abpulte, »dass ich immer gern aus der Hauptstadt wegfahre. Diese Stadt ist nichts für meine Nerven. Da fahre ich meinen Bruder beerdigen, und meine Frau sagt zu mir: Bei der Gelegenheit kannst du mir einen fleischfarbenen Unterrock und eine Unterhose mit Spitze kaufen. Ich habe mich richtig aufgeregt. Das fehlte noch, meine Liebe, sage ich, dass ich nach Unterhosen Schlange stehe …!«
»Ja, Moskau – das ist schon eine gefährliche Stadt!«, rief der junge Mann aus und goss Wein in die Gläser. »Um ehrlich zu sein, meine Frau ist einmal wegen ihrer Frauenkrankheit nach Moskau gefahren und mit einer Männerkrankheit zurückgekommen.«
»Und mein Mann, der ist an Darmverschluss gestorben«, lächelte die alte Frau, an dem Portwein nippend. »Er hat sich an Pelmeni überfressen. Zwölfhundert Stück hat er gegessen, ohne sich vom Fleck zu rühren.«
»Was mich betrifft«, gestand das Mädchen mit den dicklichen Beinen, »ich bin nicht verheiratet. Ich bin noch rein wie ein Täubchen«, seufzte sie.
»Waren Sie etwa noch nie verliebt?«, erkundigte sich der Bürger mit Hut teilnahmsvoll.
»Doch, wieso denn nicht? Einmal hat mich Kolja im Treppenaufgang sogar gestreichelt«, verkündete das Mädchen mit den dicklichen Beinen und wandte leicht verlegen den Blick zum Fenster.
»Ach du meine Liebe!«, rief die alte Frau gerührt. »Mir ist etwas Ähnliches im Jahre 1922 passiert. Damals bin ich zur Frau geworden«, fügte sie stolz hinzu.
Der Bürger mit Hut gab etwas Salz aufs Ei und beförderte es ganz in den Mund.
»Ich habe einmal in einem Anfall von Melancholie«, sagte er kauend, »meiner Frau Vera mit einem Schemel eins über den Kopf gehauen. Und kein Problem, sie hat's überlebt.«
»Nein, es war 1923«, sagte die alte Frau versonnen.
»In meinem Semester bin ich die Einzige, die noch Jungfrau ist«, bemerkte das Mädchen mit den dicklichen Beinen.
»Um ehrlich zu sein«, sagte der junge Mann, während er rasch sein Essen hinunterschluckte, »ich haue gern hin und wieder jemandem eins in die Fresse.«
»Ich habe meinen teuren Verblichenen öfter mal mit dem nassen Handtuch verdroschen«, erinnerte sich die alte Frau. »Er war wirklich sehr hilflos.«
»Natürlich könnte ich!«, rief das Mädchen aus und wippte herausfordernd mit den dicklichen Beinen. »Aber ich habe Angst, dass ich schwanger werde und dann zufällig ein Kind kriege.«
»Meine Frau Vera hat dreizehn Mal künstlich die Schwangerschaft unterbrochen«, sagte der Bürger mit Hut würdevoll, kippte den Portwein in einem Zug runter und räusperte sich, »aber zwei Mal hat sie es nicht machen lassen, weshalb meine Kinder geboren wurden.«
»Um ehrlich zu sein, meine Frau hat auch abgetrieben. Das war ein sehr dramatischer Moment. Wenn ich daran denke, kriege ich rote Flecken auf der Haut. Wollen Sie mal gucken?« Der junge Mann knöpfte das Hemd auf und zeigte die frischen roten Flecken auf Brust, Bauch und unter den Achseln. Alle waren angenehm ergriffen.
»Ich habe vier Enkel und nicht eine einzige Enkelin, es ist wie verhext«, setzte die alte Frau das Gespräch fort. »Ich bin absolut sicher, dass Mischka nicht von Wassili ist.«
Sie kramte Fotos aus ihrer Handtasche. Man verglich. Mischka sah in der Tat Wassili nicht ähnlich. Wassili war mondgesichtig, und Mischkas Gesicht war eher wie das eines Pferdes geformt.
»Von wem ist er denn dann?«, fragte der junge Mann.
»Von Nikolai Mitrofanowitsch Sosulja«, flüsterte die alte Frau geheimnisvoll.
»Und haben Sie ein Foto von Sosulja?«, fragte das Mädchen mit den dicklichen
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