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de profundis

de profundis

Titel: de profundis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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Beinen.
    »Nein«, sagte die alte Frau streng, »Sosulja gibt niemandem ein Foto von sich.«
    »Schade«, sagte der Bürger mit Hut und warf die Essensreste aus dem Fenster, »sonst hätten wir Vergleiche anstellen können.«
    Er und der junge Mann gingen eine rauchen.
    »Um ehrlich zu sein, ich stehle nie«, sagte der junge Mann, während er seine billige Kippe qualmte, »aber von der Arbeit lasse ich immer irgendwas mitgehen. Es ist stärker als ich.«
    »Also, wenn man mich richtig in Rage bringt«, ließ ihn der Bürger mit Hut vertraulich wissen, wobei er seine dicke Papirossa dem jungen Mann beinahe in die Brust pikste, »dann kann ich einen Mann mit einem Faustschlag zwischen die Augen umbringen.«
    »Um ehrlich zu sein, ich verstehe Sie.« Der junge Mann nickte erfreut. »Dagegen ist kein Kraut gewachsen.«
    Als sie ins Abteil zurückkamen, schliefen die Frauen bereits. Ohne sein Bett bezogen zu haben, streckte sich der junge Mann auf der obersten Pritsche aus und schlief rasch ein. Der Bürger mit Hut hingegen wälzte sich noch lange herum und murmelte: »Mit dem Schemel …! Hau ab, sonst kriegst du eine gepfeffert!« Aber dann beruhigte er sich und begann zu schnarchen. Den Hut behielt er auf.
    Beim morgendlichen Tee sagte der junge Mann:
    »Ich kenne einen Typen, der steckt sich eine Fliege in den Mund, und zum Ohr fliegt sie wieder raus.«
    »Aus dem rechten oder aus dem linken?«, fragte der Bürger mit Hut.
    »Und ich habe einmal im Pionierlager«, sagte das Mädchen mit den dicklichen Beinen, »der Pionierleiterin versehentlich ein Ohr abgebissen.«
    »Das linke oder das rechte?«, fragte der Bürger mit Hut.
    »Das weiß ich nicht mehr genau.«
    »Na, und was haben sie danach mit dir gemacht?«, fragte die alte Frau ernsthaft besorgt.
    »Nichts. Es war ja keine Absicht.«
    »Ich muss Ihnen sagen«, erklärte der Bürger mit Hut, »dass ich vor einigen Jahren persönlich mit einem ehemaligen stellvertretenden Minister bekannt war.«
    »Und ich habe Kaganowitsch aus der Nähe gesehen«, sagte die alte Frau, und die angenehme Erinnerung ließ ihr Gesicht erstrahlen.
    Der Bürger mit Hut aß mit Appetit die Reste der gestrigen Sprotten auf, die über Nacht vor lauter Langeweile leicht grün geworden waren, und begann zusammenzupacken; seine Station näherte sich.
    »Nehmen Sie Ihr Handtuch mit«, schlug der junge Mann vor, »wir sagen dann dem Schlafwagenschaffner, dass Sie keins bekommen haben.«
    »Gute Idee«, sagte der Bürger mit Hut und stopfte das Waffelhandtuch in seine Aktentasche.
    Häuschen blitzten auf, Gleise verzweigten sich fächerartig. Auf dem ansonsten menschenleeren Bahnsteig lief mit besorgtem Gesichtsausdruck eine kleine Frau mit Hütchen auf und ab.
    »Vera!«, schrie ihr der Bürger mit Hut zu, aus dem Fenster gelehnt und verzweifelt mit den Armen rudernd. »Ich bin hier! Bin gleich da …! Das ist sie, meine Megäre«, sagte er und drehte sich gerührt zum Abteil um.
    Der Bürger mit Hut griff sich seinen Koffer und die Aktentasche und war auch schon, ohne sich verabschiedet zu haben, auf dem Gang. Doch am Ausgang des Wagens stutzte er und rannte zurück ins Abteil.
    »Ich habe ganz vergessen, Ihnen zu sagen«, teilte der Bürger mit Hut seinen Reisegefährten schwer atmend mit, »dass ich dieses Frühjahr eine Liebesaffäre mit der hiesigen Stationsvorsteherin Nina Iwanowna Swerjewa hatte. Aber ich habe ihr den Laufpass gegeben.« Und er verschwand.
    Durchs Fenster verfolgten seine Reisegefährten begierig das rührende, von Küssen und Umarmungen begleitete Wiedersehen der Eheleute. Die Stationsvorsteherin Swerjewa beobachtete ebenfalls, beleidigt die Unterlippe vorstülpend, das Geschehen aus ihrem Fenster. Dann kam sie heraus, blinzelte und läutete mit gespielter Gleichgültigkeit das Glöckchen.
    »Ich habe meinen teuren Verblichenen auch betrogen«, sagte die alte Frau zärtlich. »1936.«
    »Und ich bin immer noch rein wie ein Täubchen«, sagte das Mädchen mit den dicklichen Beinen traurig.
    »Um ehrlich zu sein, ich mag solche Mädchen wie Sie«, sagte der junge Mann und leckte seine saftigen Lippen.
    Die Wagen ruckten in eiserner Konvulsion. Der Zug setzte sich in Bewegung.
    »Nein, das war siebenunddreißig, nach der Verfassung«, sagte die alte Frau. »Da haben wir in Konotop gewohnt. Ich hab mir damals noch diese weißen Söckchen gestrickt.«

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