de profundis
Natalja Michejewna mit einem Blick hilfloser Verwirrung und heiliger Entrüstung an. Dann begann er leise zu sprechen, so als wäre er ganz ruhig, aber wir sahen, was ihn diese Ruhe kostete:
»Dieses Dokument hat mich an die Protokolle der Weisen von Zion‹ erinnert. Hier wie dort geht alles in Erfüllung wie geplant. Und nun«, er nickte in die Kamera, »wird das ganze Volk dieses Dokument hören!«
»Aber hast du nicht selber zu mir gesagt, mein Lieber, dass es das Volk nicht gibt, sondern nur die Menge, die Masse?«, fragte Natalja Michejewna.
»Ich hoffe, dass die betrogene Menge von heute sich morgen in das Volk verwandelt. Doch dem russischen Volk wird es sehr schwer fallen, das Land wieder aufzurichten. Innerhalb des Volkes sind in den letzten Jahren viele Feinde Russlands aufgetaucht. Der schlimmste darunter ist die Jugend. Das sind grausame Missgeburten, ohne weiteres vergewaltigen und erschlagen sie ihre Freundinnen für Jeanshosen oder Videoapparate. Und jetzt, meine Liebe«, brüllte Iwan Grigorjewitsch, »gieß uns doch ein Tässchen heißen Tee ein! Aber einen starken!«
Natalja Michejewna und Sumpf zogen im Gänsemarsch in die Küche ab.
»Hat er die Kamera ausgeschaltet?«
Ich nickte. Iwan Grigorjewitsch sah mich listig von der Seite an.
»Du glaubst wohl, ich bin bloß ein alter Knochen?«
Er ging rasch zur Tür. Das Schloss schnappte.
»Ich zeig dir was.«
Er öffnete wieder die Schreibtischschublade, aus der er bereits das CIA-Dokument hervorgezogen hatte, und reichte mir mit leicht zitternder Hand eine Fotografie. Ein Schwan, der hinter einem Mädchen stand, berührte mit halb ausgebreiteten Flügeln ihre entblößten Schultern. Der Kopf des Mädchens mit wallendem Haar war in süßem Schmachten leicht zurückgeworfen. Der elegante Hals des Schwans ruhte auf dem hellen, gefällig angeschwollenen Venushügel.
»Journalistin.« Iwan Grigorjewitsch kniff zärtlich die Augen zusammen. »Eine Gleichgesinnte.«
»Wärme mich, Liebster.«
Iwan Grigorjewitsch schleppte die Elektroheizung ins Schlafzimmer, wohin Aljona bereits entflattert war. Und erneut vernahm man das Gurren der Geliebten im warmen Bettchen:
»Wanetschka, geht es dir gut mit mir, bedauerst du es nicht?«
»Mein Augenstern, warum fragst du? Ich möchte schreien: ›Ihr Menschen! Ich bin glücklich!‹«
»Und Sie sagen, dass Sex für Sie nicht existiert«, sagte ich, gerührt von seiner Zutraulichkeit, während ich ihm die Fotografie der nackten Journalistin zurückgab.
»Liebhaberinnen erkenne ich nicht an, das ist nichts für mich«, sagte Iwan Grigorjewitsch streng. »Für mich kann es nur eine Geliebte geben.«
»Ist das nicht ein und dasselbe?«, fragte ich mit gespielter Verwunderung.
»Ganz und gar nicht. Eine Liebhaberin – das ist etwas Vorübergehendes, etwa wie eine Erkältung. Eine Geliebte – das ist der Gegenstand unauslöschlicher Anbetung.«
»Also wenn Sie so denken — ich stehe zu Ihren Diensten«, sagte Aljona sanft und kroch unter die Decke, die sich über ihr schloss.
Nach kurzem Schweigen begann Iwan Grigorjewitsch laut nachzudenken:
»Warum bin ich Ihnen nicht schon vor zehn Jahren begegnet?«
Als kluges Mädchen verstand sie natürlich, was an ihm nagte, und sie bemühte sich, seine Zweifel zu zerstreuen.
»Immer reden Sie nur von Ihrem Alter!«, sagte Aljona leichthin. »Vergessen Sie das – Sie sind in einem wunderbaren Alter. Denken Sie nur an Maseppa und Maria. Oder an den siebzigjährigen Goethe und die sechzehnjährige U…«
»Das sind alles Anomalien aus dem Guinness-Buch«, versetzte Iwan Grigorjewitsch wehmütig.
Und Aljona beschloss, den ersten Schritt zu tun.
»Bin ich etwa nicht die Richtige?« Sie sah ihn mit einem schwülen Blick an.
Ihr Gesicht glühte. Geistige Nähe ruft unbedingt auch fleischliche hervor. Und umgekehrt. An der Tür zum Arbeitszimmer wurde zaghaft gekratzt.
»Iwan?«, war Natalja Michejewnas Stimmchen zu hören. »Was ist los, Iwan? Hast du dich etwa eingeschlossen?«
»Trotz allem werde ich sie nicht verlassen«, sagte Iwan Grigorjewitsch kategorisch und warf einen funkelnden Blick in Richtung Tür. »Die Alte ist ohne mich verloren.«
»Ich komme!«, schrie er, öffnete die Tür mit einem Gefühl seelischen Aufschwungs und begann überraschend für alle zu singen:
»Leuchte, leuchte, du mein Stern,
Einzig dich seh ich mit Bangen
Stern der Liebe, mein Verlangen,
Kein andrer wird mich je verzehrn.«
Iwan Grigorjewitsch trat zum Fenster,
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