Dead: Band 1 - Roman (German Edition)
solche Trivialitäten zu denken, wird ihm klar, dass er die verlorene Welt stückchenweise betrauern muss.
Nach dem Abendessen steckt Paul sich eine Zigarette an, die er schweigend raucht, während die anderen sich nicht fern von ihm hinter einem Fahrzeug mit Schwämmen säubern. Wendy, die wütend durch die Nase schnauft und gegen ihre Tränen ankämpft, kriegt das Solar/Kurbelradio ans Laufen.
» … keine Übung « , sagte eine besänftigende monotone Stimme mit britischem Akzent. » Hier ist der Notrundfunk. Dies ist keine Übung. Die heutige Bedrohungsstufe des Heimatschutzes steht wegen ernstlicher Risiken auf Rot. Gehen Sie nicht aus dem Haus. Folgen Sie den Anweisungen der örtlichen Behörden. Meiden Sie Personen, die sich verdächtig oder aggressiv verhalten. «
Ein Überlebender nach dem anderen stimmt in die Rede ein. Es ist fast wie ein Gesang: » Wenn Ihnen militärische Einheiten oder Ordnungskräfte begegnen, legen Sie beide Hände auf den Kopf und gehen ihnen langsam und ruhig entgegen. Nehmen Sie das Gesetz nicht in die eigenen Hände. Respektieren Sie das Leben und den privaten Besitz … «
Sarge schaltet das Radio aus. » Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass der heutige Tag so schlecht war wie der gestrige. «
Alle nicken finster vor sich hin.
» Doch andererseits, Sergeant « , sagt Paul, » können wir mit Sicherheit sagen, dass wir alle noch beisammen sind. Das ist doch immerhin ein Lichtblick. «
» Amen « , sagt der Bengel.
Anne kehrt von ihrem Schwammbad zurück und boxt den Bengel auf die Schulter.
» Hier, die neue Zahnbürste. «
Draußen ertönen das Geheul der Infizierten und das Stampfen vieler Hundert Füße. In der Ferne wird geschossen und gebrüllt. Dann ist es so still, dass man das Blut in den eigenen Adern rauschen hört. Im matten Licht einer Laterne nimmt Ethan aus Wendys Hand eine Schlaftablette entgegen und schluckt sie trocken herunter. Er liegt in T-Shirt und Shorts auf seinem Schlafsack und durchlebt erneut das letzte Gespräch mit seiner Frau und seinem Kind. Dann schlägt die Tablette an. Sein letzter zusammenhängender Gedanke vor dem Einschlafen ist eine vage Erinnerung an einen griechischen Mythos, in dem Schlaf und Tod Brüder sind.
Seine Albträume sind strapaziöse Heimsuchungen voller greller Farben und Gefühle, Gegensätze von Gut und Böse und Symbole der Schuld. Schließlich träumt er von einem warmen Abend daheim, seine Frau sitzt glücklich im kirschfarbenen Bademantel auf einem Schaukelstuhl neben dem Bett ihrer Kleinen und hat sie auf dem Schoß. Das Familienritual, bevor man zu Bett geht. Doch plötzlich sind die Wände von rußiger Asche dunkel und wimmeln von Graffiti und Fotos vermisster Kinder. Ein Einschussloch ist in der Fensterscheibe hinter dem Kopf seiner Frau zu sehen. Sie lächelt noch und riecht am Haar ihrer Tochter, doch schon ist ihr Gesicht grau und ihr Mund und ihr Kinn ein schwarzer Fleck. Die Kleine rührt sich nicht. Ethan weiß nicht, ob sie noch atmet.
Seine Frau leckt über den Hinterkopf der Kleinen, wie eine Katze, die ihr Junges pflegt. Als wollte sie sie schmecken.
RÜCKBLENDE: ETHAN BELL
Vor neun Tagen ist Ethan mit heftig gegen seine Rippen schlagendem Herzen in einem leeren Bett aufgewacht. Er fand seine Frau im Bad, wo sie vor dem Spiegel mit offenem Mund Mascara auflegte. Mary saß auf dem Boden und ahmte Mama nach. Seit der Brüllerei vor drei Tagen geriet Ethan ständig in Panik, wenn er nicht wusste, wo seine Frau und seine Tochter waren. Er hatte Albträume, in denen sie zu Boden fielen und brüllten. Er bemühte sich, nicht an seine Schüler zu denken, denen es tatsächlich so ergangen war.
» Ich brauche Kaffee « , sagte er. » Wohin gehst du, Schatz? « Er schenkte seiner Tochter einen Blick und winkte ihr schnell zu. » Hallo, Mary! «
» Arbeiten « , sagte Carol. » Ich muss heute arbeiten. «
» Hallo, Papa « , sagte Mary.
» Aber du wolltest doch erst Donnerstag wieder gehen. «
» Heute … ähm … heute ist Donnerstag, Ethan. «
» Nein « , sagte er und lächelte breit, da Mary, die ihn plötzlich eindringlich anschaute, wohl den Eindruck hat, er könne verärgert sein. » Heute solltest du mal wieder zu Hause bleiben. Das tun im Moment viele Leute. «
» Wir haben doch darüber gesprochen, Ethan « , sagte seine Frau. Ihr Lächeln war absolut echt. » Der Schreck steckt uns zwar allen noch in den Knochen, aber das Land muss sich wieder bewegen. Zu viele Dinge hängen in der
Weitere Kostenlose Bücher