Dead Beautiful - Deine Seele in mir
Plötzlich kreiste in meinem Kopf alles um meine Eltern und die Geldstücke, die um ihre Leichen verstreut gelegen hatten.
Minnie nickte. »Ich hab sie wimmern gehört, als sie den Sarg mit einem Brett zugemacht haben, aber gerührt hat sie sich nicht. Brandon hat ihn mit seinem Spaten zugehämmert und dann haben sie ihn hochgehoben und im Loch versenkt. Dann haben sie Erde draufgeschaufelt und das war’s.«
»Brandon? Brandon Bell, auch bekannt als Eleanors älterer Bruder? Und als Wächter Nummer eins? Du sagst, der hat Cassandra Millet lebendig begraben?«
»Nicht er allein. Sie alle zusammen. Und die Rektorin. Ich hab versucht, sie wieder auszugraben, als alle weg waren, aber es hat angefangen zu regnen und die Erde war so fest. Ich hab die Stelle mit einem Stock markiert, damit ich sie wiederfinde, aber als ich Professor Lumbar hingebracht habe, war er weggespült worden.«
»Aber warum? Warum haben die das getan?«
»Ich weiß es nicht. Du hast doch bestimmt schon von dem Tag im Speisesaal gehört, als ich’s allen erzählt habe.«
Ich nickte.
»Danach musste ich zur Rektorin ins Büro. Ich hatte so eine Angst; ich hab geglaubt, jetzt bringt sie mich auch um. Ich hab meine Eltern angerufen, aber die dachten, ich spinne, genau wie alle anderen auch. Ich hab sogar mein Testament gemacht.« Sie ging zu ihrem Schreibtisch und zog ein Blatt Papier aus der Schublade. »Siehst du, ich hab’s noch.«
Letzter Wille und Testament von
Minnie Roberts, 14 Jahre
Vermächtisse
Meine Siamesischen Kampffische hinterlasse ich meiner Cousine Jenny
Meine Zeichnungen hinterlasse ich meinen Eltern
Meine Kleider hinterlasse ich meiner Cousine Jenny
Meine Ballettschuhe hinterlasse ich dem Kinderkrankenhaus Bethleson
Meine Bücher hinterlasse ich der Coplestone-Bibliothek des Gottfried-Instituts.
Letzte Wünsche
Wenn ihr das lest, bin ich wahrscheinlich schon im Toten Wald begraben. Bitte findet mich.
Danke für ein wunderschönes Leben.
Ich war ganz rot geworden, während ich das las und das Gefühl hatte, ihr viel zu nahe zu treten. »Das ist perfekt«, sagte ich.
»Danke.« Sie faltete das Blatt wieder zusammen und legte es zurück in die Schublade. »Ich hab auch einen Zettel geschrieben und erklärt, was ich in der Nacht gesehen habe, zusammen mit einer Zeichnung der Szene. Die hab ich hinterher gemacht. Das wurde alles von der Schule konfisziert.
Jedenfalls, als ich dann zum Büro der Rektorin bin, hab ich geglaubt, ich muss sterben. Aber stattdessen hat sie mir erzählt, ich hätte mich getäuscht. Sie wäre in dieser Nacht gar nicht am Gottfried gewesen und sie hätte Zeugen dafür, dass sie eigentlich in Europa gewesen wäre. Dann hat sie mir eine Woche Nachsitzen aufgebrummt, weil ich mich nachts vom Schulgelände geschlichen habe. Alle waren derselben Meinung. Dass ich’s mir ausgedacht hätte und dass ich spinnen würde. Meine Eltern haben mich sogar den Sommer über in die Psychiatrie gesteckt.« Minnie blickte auf ihre Zeichnungen. »Es ist nur so, dass ich schon immer meine Zeit damit verbracht hab, Dinge zu beobachten. Ich weiß, was ich gesehen habe. Ich lüge nicht.«
Ihre tränennassen Augen schauten mich durchdringend an. Ich erkannte, dass sie sich inzwischen wünschte, falschzuliegen, um nicht die verstörende Wahrheit akzeptieren zu müssen. »Ich glaube dir«, sagte ich.
Gegen Ende des Herbstsemesters fand ein sogenanntes »Gastmahl« statt, um den Winteranfang zu begehen. In der Tradition Platons sollte es ein Themenessen mit Diskussionen über verschiedene philosophische Probleme sein. Aber für alle gab es nur ein Thema und das hieß Eleanor.
Der Speisesaal stand voller langer, rechteckiger Tische, bedeckt von königsblauen Tischdecken, die bis auf den Boden reichten. Das Menü war aufwendig und unverkennbar neuenglisch: Buttermais, gefüllter Kürbis, kandierte Süßkartoffeln, Wild, Wachteln, Truthahn und Stubenküken, alle goldbraun gebraten, dazu Blaubeerauflauf, eingelegte Früchte und ein ausgefeiltes Angebot an Desserts. Die Tische der Lehrer waren hufeisenförmig entlang der Saalwände aufgestellt und rahmten die Schülertische in der Mitte ein. Jeder Jahrgang hatte seine Tafel, die eine Hälfte für die Mädchen, die andere für die Jungen. Ich steckte zwischen Emily Wurst und Amelia Song, einem stillen Mädchen, das im Schulorchester die Harfe spielte und stets für sich blieb. Minnie Roberts war so ziemlich die Einzige, mit der ich mich unterhalten wollte, aber es war
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