Dead Beautiful - Unendliche Sehnsucht: Roman (German Edition)
dessen Kopf mich immer tiefer in denSitz hineindrückte. Ich fühlte mich so weit von meinem Ausgangspunkt entfernt, dass es mir schien, als könnte ich niemals den Weg zurückfinden.
Ein Schaffner in schwarzer Uniform kam den Gang entlanggetrottet.
»Billets«
, sagte er.
Ich langte in die Tasche meines Pullis und reichte dem Schaffner unsere Fahrscheine. Zwei davon stempelte er ab, den dritten musterte er, bevor er ihn mir zurückreichte.
»Ceci n’est pas un billet«
, sagte er.
Ich nahm ihm das Kärtchen ab, knipste das kleine Licht über mir an und musste nach Luft ringen.
Es war ein abgegriffenes Foto von einem kleinen Haus mit Stuckfassade und einem wuchernden Garten, völlig überbelichtet durch die kalifornische Sonne. Die Tür kannte ich. Ich strich ihren Rahmen entlang. Ich kannte auch den Teppich dahinter, wie plüschig er sich zwischen den Zehen anfühlte. Und die Räume dahinter kannte ich auch: das Wohnzimmer, das Arbeitszimmer, die Treppe mit der knarrenden dritten Stufe. Durch das Fenster konnte ich einen Mann und eine Frau ausmachen, über die Küchenarbeitsplatte gebeugt. Es sah aus, als ob sie lachten. Meine Eltern. Meine Küche. Mein Leben.
Meine Finger krümmten sich um das Foto, als ich ihre verschwommenen Gesichter betrachtete. Ich hatte das Bild noch nie zuvor gesehen. Wie war es in meine Tasche geraten? Wo hatte ich gesteckt, als es aufgenommen wurde? Je länger ich daraufstarrte, desto aufgewühlter wurde ich. Meine Augen jagten im Waggon umher, von einem der wenigen Mitreisenden zum anderen. Sie hatten keine Ahnung, dachte ich. Keiner wusste etwas davon außer mir. Ich starrte auf das Foto, völlig überwältigt von Schuldgefühlen.Ich war die Einzige, die meine Eltern hätte warnen können. Wäre ich nur schneller gewesen. Ich hätte auch Annette LaBarge retten können. Ich hätte sie alle retten können.
Meine Augen wurden feucht. Ich blinzelte und eine Träne fiel in meinen Schoß.
Wieder blinzelte ich und meine Augen wurden schwer. Draußen schien sich der Himmel aufzuhellen.
Als ich ein drittes Mal blinzelte, trugen die Bäume Knospen, so wie im Frühling. Erschöpft fiel mein Kopf gegen den Ledersitz zurück und meine Welt versank.
Dann war es Morgen. Ich lief einen schlammigen Weg durch ein grünes Birkenwäldchen entlang. Bis auf die doppelte, angetrocknete Reifenspur vor mir gab es kein Anzeichen von Leben. Ich lief weiter, bis ich eine zwischen den Büschen verborgene Blockhütte erreichte. Davor stand ein Briefkasten mit der Nummer 66. Daneben ein Schild: WARNUNG VOR DEM HUND.
Ich kauerte mich hinter die Büsche und wartete, bis ein Auto den Weg hochfuhr, den ich gekommen war. Von unten im Gebüsch konnte ich nur vier Füße aus dem Wagen steigen sehen, aber ich wusste schon, wem sie gehörten. Zwei Brüdern des Liberum. »Wie hast du diese Frau gefunden?«, fragte einer auf Latein. Seine Stimme klang glatt und unbefangen, wie die eines Teenagers.
»Ich bin ihr durch Europa gefolgt«, erwiderte der zweite Bruder mit leiser Baritonstimme. »Ich glaube, sie hat irgendetwas entdeckt, das uns zu den Schwestern führen könnte.«
»Sie finden nie etwas«, sagte der andere und trat gegen einen Stein. Er schlug nur Zentimeter vor meinem Gesicht auf. Und ohne ein weiteres Wort öffnete er den Briefkastenund legte einen Zettel hinein. Sie sahen sich in alle Richtungen um, stiegen wieder ins Auto und fuhren davon.
Zunächst rührte ich mich nicht. Ich starrte auf die Fenster der Blockhütte, um sicherzustellen, dass sich drinnen nichts rührte. Als ich meinte, dass die Luft rein sei, öffnete ich das Briefkastentürchen. Es quietschte haarsträubend. Mein Blick flog zur Blockhütte, aus der jetzt das Getrappel kleiner Füße herausdrang. Im Nu hatte ich mir den Zettel geschnappt und war im Wald verschwunden, als bereits ein Schwarm untoter Kinder durch die Tür herausbrach.
Und plötzlich saß ich im Zug und reiste gen Süden. In meinem Schoß lag die Fotografie eines kleinen, stuckverzierten Häuschens mit Garten. Durch das Fenster konnte man sehr undeutlich zwei Leute erkennen. Ich drehte das Foto um.
Lydia Winters
stand auf der Rückseite. Sonst nichts.
»Costa Rosa, Kalifornien«, verkündete ein Mann über die Lautsprechanlage.
Ich stieg aus, rief vor dem Bahnhof ein Taxi und gab dem Fahrer die Adresse. Er fuhr mich durch baumgesäumte Alleen und bunte Wohngegenden mit kleinen, würfeligen Häusern, bis er vor einem Haus mit Stuckfassade anhielt. Ich zog das Bild
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