Dead Beautiful - Unendliche Sehnsucht: Roman (German Edition)
Pein,
schul dich an meines Kummers Macht;
lass dich, um ihm nachzuspüren,
von des Bären Nase führen
hinab in feuchte Salzesnacht;
zur Ruh’ gebettet ist’s bewahrt,
denn nur dem Besten unsrer Art
sei es vermacht.
»Der erste Teil verrät gar nichts«, sagte ich und las alles noch einmal, obwohl ich jedes Wort längst auswendig konnte.
»Höchster Rang? Schul dich?«, fragte Noah und fuhr die zweite und dritte Verszeile entlang. »Das Versteck hat ganz klar was mit einer Schule zu tun.«
Ich überlegte. »Aber nicht mit dieser Schule. Ophelia hätte es ganz bestimmt nie am St. Clément versteckt. Sie versteckt doch nicht das Geheimnis am selben Ort wie den ersten Teil des Rätsels. Das würde ja total den Zweck verfehlen.«
Anya pflanzte sich zwischen uns und schob das Rätsel zur Seite. »Ihr geht das völlig falsch an. Ich glaube, die letzten Verse heißen, dass Ophelia diese Rätsel nur an eineganz bestimmte Sorte Mensch gerichtet hat. Wahrscheinlich an jemanden wie sie. Höchster Rang.«
Noah und Anya drehten sich langsam zu mir um.
»Das Rätsel verrät uns nur die Hälfte«, fuhr sie fort. »Es sagt uns, dass das Geheimnis im Salzwasser liegt, bei einem Bären. Und dass es vielleicht mit einer Schule zusammenhängt. Aber das reicht noch nicht. Meiner Meinung nach müssen wir wie sie
denken
, um das Geheimnis zu finden.«
Ich schloss die Augen und stellte mir vor, ein so großes Geheimnis zu haben, dass niemand davon erfahren durfte. Das war nicht weiter schwer, ich brauchte nur an Dante zu denken. Wenn ich also die Geschichte unserer Beziehung aufschreiben und verstecken würde, wo würde das sein?
Wo wir uns zum ersten Mal gesehen hatten.
Ich schlug die Augen auf. »An ihrer Stelle hätte ich das Geheimnis dort verborgen, wo ich es zum ersten Mal eingesetzt hätte. Das würde vielleicht Glück bringen. Also lasst uns einfach mal sammeln, was wir wissen.« Ich blickte Anya ins Gesicht. »Ophelia Hart ist hier gestorben, bei einem Brand, in ihrem Wohnheimzimmer am St. Clément. Sie kam ins Royal Victoria und ist dort als Untote wiederauferstanden.«
Noah schob sich gedankenverloren die Brille höher auf die Nase. »Dann hat ihr Arzt sie zu diesem Krankenhaus in den amerikanischen Kolonien mitgenommen.«
»Ans Gottfried«, ergänzte ich nachdenklich. »Und dort hat sie es irgendwie geschafft, von der Patientin zur Krankenschwester und dann zur Rektorin aufzusteigen. Aber als Untote wäre ihr gar nicht genug Zeit geblieben, um auch nur eines davon zu werden. Die haben ja nur einundzwanzig Jahre, um ihre Seele zu finden.« Die Verse auf demZettel verschwammen vor meinen Augen ebenso wie die Zeittafel in meinem Kopf. Die Erkenntnis traf mich, bevor ich sie in Worte fassen konnte, und ich gab ein seltsames Quietschen von mir, das Noah und Anya schlagartig verstummen ließ. Ich starrte sie an wie ein Ölgötze. »Was, wenn sie das Geheimnis dort verwendet hat?«
Noah führte nachdenklich einen Finger an die Lippen. »Gibt’s da nicht auch einen See?«
»Einen Salzsee«, murmelte ich und mochte es kaum begreifen. »Und darüber blickt die Statue des großen Bären.«
»Der Bär«, hauchte Anya ehrfürchtig.
»Genau!«, sagte ich mit rasendem Puls, als mir klar wurde, dass der Weg zu meiner Seele, zu Dantes Seele, die ganze Zeit am Gottfried gewartet hatte.
Noah lächelte mich leise an. »Also, wann ist Abfahrt?«
Sechzehntes Kapitel
Das Gottfried-Institut
E s war diese verwunschene Zeit zwischen vier und fünf in der Frühe, als Noah und ich den Zug nach Maine bestiegen. Die Waggons waren klapprige alte Dinger, und als wir bis ans Ende durchgingen und uns einen Platz suchten, sahen wir kaum einen Menschen. Ich klemmte unsere Schaufeln unterm Fenster fest, Noahs neben meine. Anya hatte mitkommen wollen, aber ich hatte es nicht zugelassen. Jemand musste am St. Clément die Stellung halten, falls wir nicht zurückkehrten.
Mit einem Ächzen hievte sich der Zug voran, schleuderte uns Richtung Süden, auch wenn ich das nach dem Blick aus dem Fenster nie erraten hätte. Draußen war alles pechschwarz. Noah fiel praktisch augenblicklich in Tiefschlaf und sein Kopf landete schließlich auf meiner Schulter. Sanft bewegte ich mich unter der Last und versuchte erfolglos, ihn wach zu rütteln.
Diese ganze Suche hatte so einfach begonnen, nur mit Dante und mir, und jetzt saß ich hier im Zug, überquerte mitten in der Nacht die Grenze, mit zwei Schaufeln im Gepäck und Noah,
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