Dead Man's Song
ganz toll fände, daß sie das Stück seines Großvaters wieder aufleben ließen. »Ich hoffe, daß es eines Ta.ges auch nach London kommt«, endete er.
»Wann sind Sie hergekommen?« fragte Carella.
»Ich bin am Mittwoch hier gelandet.«
»Und wo wohnen Sie?«
»Im Piccadilly. Es klang wie zu Hause«, sagte er und grinste. Er hatte sich zu gründlich rasiert. An seinem Kinn waren winzige Schnittwunden zu erkennen.
»Wann fliegen Sie wieder zurück?«
»Nicht vor dem nächsten Sonntag. Ich bleibe für ein paar Tage hier und sehe mir die Stadt an. Arbeiten kann ich später immer noch, oder?« sagte er.
Cynthia Keating trug ein schlichtes schwarzes Cocktailkleid. Ihr Mann Robert war einer von den Männern, die einen Anzug trugen. Brown kam zu dem Schluß, daß jeder, der nicht auf engste Weise mit dem Showbusiness verbunden war, sich für diese Gelegenheit herausgeputzt hatte. Allmählich kam er sich ziemlich dämlich vor. Der Anzug, den Keating trug, hatte dezente Nadelstreifen. Er sah aus, als müßte er einen Fall für IBM vertreten. Cynthia erzählte Rowland Chapp, dem Regisseur der Produktion, daß das ursprüngliche Stück, das Jessica Miles geschrieben hatte, »einfach wunderbar« sei, was Chapp mit einem geistesabwesenden Nicken quittierte, das andeutete, daß er genau wußte, wie entsetzlich das Stück war. Brown hatte nur noch den Wunsch, nach Hause zurückzukehren.
Champagner und Kanapees wurden auf Tabletts herumgetragen, serviert von zwei Möchtegernschauspielern, die heute abend schwarzweiß kostümiert waren und den schlagfertigen Kellner und die kapriziöse Kellnerin spielten. Schneeflocken wirbelten vor den Penthousefenstern, angestrahlt von Scheinwerfern, deren grelles Licht sie so scharf und funkelnd aussehen ließen wie winzige Dolche.
Connie Lindstrom klopfte an ihr Champagnerglas.
»Ich habe eine Überraschung«, sagte sie. »Randy?«
Applaus brandete auf, und dann wurde es schlagartig still, als Randy Flynn zum Konzertflügel in einer Ecke des Raums ging, sich niederließ und den Deckel über den Tasten hochklappte. Hinter ihm tanzten Schneeflocken vom nächtlichen Himmel.
»Ich werde Ihnen jetzt die Musik des Musicals vorstellen«, sagte er. »Darunter auch die drei neuen Songs, die ich geschrieben habe. Wir haben das ursprüngliche Konzept erhalten. Das gesamte Musical spielt in Jennys Zimmer. Das Fenster ihres Zimmers ist ein Fenster zur Stadt. Wir sehen die Stadt, und wir sehen alles, was in der Stadt geschieht, mit ihren Augen und von ihrem Standpunkt aus.«
Er begann zu spielen.
Carella konnte nicht entscheiden, welche neuen Songs hinzugefügt worden waren. Für ihn war die Musik, die die Luft in Connie Lindstroms Penthouseapartment erfüllte, aus einem Guß. Während Morrow mit seiner rauhen Raucherstimme sang, trieb Carella in eine andere Zeit und an einen anderen Ort zurück, in diese Stadt im Jahr 1928, als alles einem jungen Mädchen namens Jenny so frisch und unschuldig vorkam, während sie in einem Emigrantenviertel, das damals - und auch heute noch - The Lower Platform hieß, in ihrem Zimmer saß und träumte.
Aber welche Unterschiede gab es zwischen damals und heute?
Flynn sang von den Sehnsüchten und vom Erwachen auf einer wundervollen Insel, gesäumt von zusammenströmenden Flüssen und überspannt von magischen Brücken. Er sang von goldenen Türmen, die bis in die Wolken ragten, von ineinander verschlungenen wundervollen Straßen, von einer unterirdisch dahinjagenden U-Bahn, die noch nicht von Zeit und Gebrauch abgenutzt war. Er sang von Verheißung und Hoffnung für ein Volk von Immigranten, das Sitten und Gebräuche mitgebracht hatte, die erhalten und gepflegt werden mußten. Während er sang, steigerte seine Stimme sich zu einem regelrechten Chor, zu den Stimmen von Hunderten von Stämmen mit genauso vielen Historien und Sitten, die sich in diesem wunderschönen Land zusammenfanden, um am Ende ein einziger, vereinigter Stamm zu sein.
Dort jenseits der Fenster von Jennys Zimmer… Was für ein Wunderland hatte dort existiert. Flynn spielte den letzten Akkord des letzten Tanzes. Es schneite noch immer.
Carella blickte durch den Raum zu seinem Partner, der wuchtig und groß und schwarz vor den weißen Flocken stand, die draußen umherwirbelten. Randy Flynn erhob sich von der Klavierbank, legte die Handflächen zusammen wie ein indischer Guru, verneigte sich in deutlich erkennbarer falscher Bescheidenheit und nahm den Beifall der versammelten Gäste entgegen.
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