DEAD SEA - Meer der Angst (German Edition)
das brachte George auf einige weniger beruhigende Gedanken. Was war, wenn sie tatsächlich einen Weg hinausfanden und dann im 2. Jahrhundert oder im Jahr 1931 im Atlantik ausgespuckt wurden? Was dann? Ja, was dann? Aber darüber nachzudenken, kam ihm müßig und sinnlos vor. Die Zeit musste sich schon um sich selbst kümmern.
Sein persönliches Fazit lautete, dass hier alles ziemlich skurril war.
Und zwar nicht nur die Zeit. Denn am nächsten Morgen – es war immer noch stockdunkel, aber ihrem Gefühl nach Morgen – lernten sie Elizabeth Castles Tante Elsie kennen. Ein denkwürdiges Ereignis. Die Frau war ein winziges Geschöpf, klein und drahtig, ihr Haar frostweiß, ihr Gesicht runzlig und blass. Sie ging an einem Stock und sah sehr verwirrt aus, als sie Cushing und George vorgestellt wurde – als hätte man sie plötzlich aus einem Traum gerissen.
»Meine Tante ist bisweilen kränklich«, sagte Elizabeth und half ihr, sich auf eins der Sofas zu setzen.
»Humbug!«, protestierte Tante Elsie. »Es geht mir ausgezeichnet. Hab mich nie besser gefühlt.«
Ihre Augen schienen vom Alter glasig, und sie hatte die Angewohnheit, gelegentlich die Konzentration zu verlieren und für längere Zeit ins Leere zu starren.
Als Elizabeth ging, um Kaffee zu kochen, sagte Tante Elsie: »Nun, ich habe schon seit Längerem damit gerechnet, dass Sie zurückkehren, Captain Dorrigan.« Sie redete mit George. »Ich kann nicht behaupten, dass ich vor Freude überwältigt bin, Sie zu sehen. Die Zeit hat Ihre Missetaten keineswegs ausgelöscht, Sir. Sie haben sich schwerwiegender Verfehlungen schuldig gemacht.«
George wartete auf die Pointe, aber es kam keine. »Verfehlungen?«
»Sie sollten Ihre Lage bedenken, Captain, und Ihre Worte mit Bedacht wählen«, warnte Tante Elsie. »Ihre Vergehen sind unverzeihlich, und ich kann Ihnen versichern, dass mein Gemahl alles in die Wege leiten wird, um Ihre Pflichtvergessenheit vor eine Untersuchungskommission der Marine zu bringen. Ein Mann wie Sie darf nicht mit der Führung eines Schiffs betraut werden.«
Jetzt verstand George. »Äh ... ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem.«
»Unsinn! Probieren Sie nicht, mich hinters Licht zu führen. Sie werden feststellen, dass ich gerade angesichts einer Verdrehung der Tatsachen eine besondere Unnachgiebigkeit an den Tag lege. Sie haben sich der Pflichtvergessenheit schuldig gemacht. Einer Pflichtvergessenheit, die das Leben Ihrer Besatzung forderte. Es mag ja sein, dass Sie und Ihr Advokat ...« Dabei sah sie Cushing an. »... einen ausgeklügelten Plan geschmiedet haben, sich den Fängen der Justiz zu entziehen, aber vor dem Antlitz Gottes sind und bleiben Sie schuldig.«
»Ich ... äh ... ich war unpässlich, Madame.«
»Sie waren betrunken.«
Na, das ist ja großartig!, dachte George. Die alte Dame glaubt, ich sei der Kapitän ihres Schiffs, und macht mich persönlich für eine wie auch immer geartete Katastrophe verantwortlich.
»Ich werde mich der Gnade des Gerichts unterwerfen, wenn wir zurückkehren«, versprach George.
»Und das sollten Sie auch. Das sollten Sie.«
Die alte Frau verfiel wieder in Schweigen und summte leise vor sich hin. George fragte sich, ob sie überhaupt jemals aus ihrer Entrückung erwachte. Wenn nicht, dann konnte es hier auf Dauer noch sehr anstrengend werden.
»Ich erinnere mich noch gut, es war ein klarer Tag«, begann Tante Elsie erneut. »Ein sehr schöner Tag, und Richard – wo ist Richard? Haben Sie ihn gesehen, Captain?«
»Ich ... ich glaube, er ist an Deck.«
»Natürlich ist er dort. Wie ich schon sagte, ein sehr schöner Tag, und auch die darauffolgende Nacht war lau und sternenklar. Nirgendwo sieht man so viele Sterne wie auf See. Es ist wunderschön. Doch dann der Nebel – entsetzlich, dieser Nebel. Über Wochen hielt er uns gefangen, lange Wochen. Hmm. Ob es wohl aufgeklart hat? Hat sich der Nebel gelichtet, Captain?«
»Müsste bald so weit sein, Ma’am.«
George begleitete Cushing, als er nach Gosling schaute. Er hatte die Augen geöffnet, schien aber in einem noch tieferen Traumland gefangen zu sein als Tante Elsie. Als er George bemerkte, streckte er die Hand aus. George ergriff sie. Gosling blinzelte mehrmals und schien mit den Tränen zu kämpfen.
»Wie geht’s?«, fragte George.
»Be... beschissen«, kam die Antwort.
»Captain, untersagen Sie bitte Ihren Matrosen, Kraftausdrücke zu verwenden!«, beschwerte sich Tante Elsie.
Elizabeth kam mit dem Kaffee. Gosling
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