DEAD SEA - Meer der Angst (German Edition)
hatten, kam es ihnen wie ein Festmahl vor.
Bald darauf ließen sich auch Chesbro und Pollard blicken. Sie sahen so gut aus wie schon lange nicht mehr. Der ungestörte Schlaf in einem richtigen Bett hatte offenbar Wunder gewirkt. Chesbro blieb zwar noch immer einsilbig, aber Pollard schien guten Mutes zu sein.
»Nun, wie ich sehe, haben wir euch Buben auch endlich aufgescheucht«, sagte Elsie. »Esst, und dann ab mit euch. Ist heute Schule? Nein? Nun gut. Dann geht hinaus zum Spielen. Esst auf! Esst auf!«
»Sie glaubt, Sie seien ihre Söhne«, erklärte Elizabeth. »Sie sind schon vor Jahren gestorben.«
Pollard und Chesbro machten Gesichter wie Theaterdarsteller, die gerade auf die Bühne kamen und sich nicht an ihren Text erinnern konnten.
»Spielt einfach mit«, riet Cushing ihnen.
Beim Essen hielt Tante Elsie gelegentlich inne und gestikulierte mit ihrer Gabel. »Ich bemühe mich, alle Details frisch in meinem Gedächtnis zu bewahren. Ich denke, es dürfte sich bei der Gerichtsverhandlung noch als wichtig erweisen.«
»Gerichtsverhandlung?«, wunderte sich Pollard.
George schüttelte den Kopf. »Nicht wichtig. Sie hält mich für Captain Hook oder so.«
Das brachte ihm einen weiteren ätzenden Blick von Elizabeth ein. Bestimmt hätte er verständnisvoller und mitfühlender sein können. Aber er hatte schon zu viel gesehen und erlebt, als dass ihm so etwas wie Sympathie noch leicht fiel. Er machte sich haufenweise neue Freunde. Chesbro sah ihn nicht einmal mehr an, seit er ihn geschlagen hatte. Aber ehrlich gesagt war es George egal. Absolut egal.
Er dachte: Gib mir sechs Monate in diesem Drecksloch. Gib mir ein Jahr. Dann wird gar nichts Menschliches mehr in mir übrig sein – oder in einem anderen von uns.
Pollard, der jetzt zum ersten Mal, seit George ihn getroffen hatte, einen entspannten und gelassenen Eindruck machte, beendete sein Mahl. »Es war großartig, endlich wieder in einem richtigen Bett zu schlafen! Ich kann euch gar nicht sagen, wie großartig. Ich hatte mich schon fast damit abgefunden, dass so etwas wie ein Bett gar nicht mehr existiert. Ich weiß, wie dämlich das klingt, aber, verdammt, genau das habe ich mir eingeredet. Wenn wir ein bisschen zur Ruhe gekommen sind, sollten wir mal ernsthaft darüber nachdenken, wo wir hier gelandet sind und wie wir wieder rauskommen.«
Dazu hob Cushing nur die Augenbraue.
»Es gibt keinen Weg hinaus«, behauptete Elizabeth.
»Es gefällt ihr hier«, sagte George. »Sie will nicht weg.«
Dafür kassierte er einen weiteren bösen Blick. »Habe ich das gesagt? Habe ich jemals gesagt, dass es mir hier gefällt? Dass ich hierbleiben möchte?«
George freute sich. Die Eiskönigin begann, an den Rändern aufzutauen. Anscheinend gab es doch ein paar menschliche Emotionen unter dem Dauerfrost.
»In der Tat«, meinte Tante Elsie, die immer wieder von Neuem mit großer Sorgfalt die Zinken ihrer Gabel zählte, »aber was du sagst, Liebes, und was du meinst, können zwei sehr unterschiedliche Sachen sein.«
Elizabeth wirkte jetzt wirklich angefressen. Sie fühlte sich in die Ecke getrieben und zeigte ihre Krallen. Es war lange, lange her, seit sie jemandem Rede und Antwort stehen und ihre Handlungen oder ihr Nichthandeln rechtfertigen musste.
»Okay«, sagte Cushing. »Wir sollten alle mal einen Gang zurückschalten.«
»Gefangen«, murmelte Pollard. »Ich weiß nicht, ob ich so leben kann.«
»Elizabeth?«
»Ja, Tante Elsie?«
»Wie lange wirst du uns hier gefangen halten?«
»Tante Elsie ...«
»Leugne es nicht«, sagte Elsie und drohte ihrer aufsässigen Nichte mit dem Finger. »Du hältst mich hier schon viel zu lange hinter Schloss und Riegel. Es ist doch wohl mein gutes Recht, zu erfahren, wie lange du dieses Spiel weiterzutreiben gedenkst. Nun? Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?«
Darauf hatte Elizabeth nichts zu erwidern. Sie stand nur da, angegriffen von ihrer eigenen Tante, und sah plötzlich älter, schwerer, unbeholfener aus, als hätte sie nicht mehr die Kraft, sich aufrecht zu halten. Sie sah Cushing an, denn er war der Einzige, zu dem sie so etwas wie eine Verbindung fühlte. Dann errötete sie, räumte Teller und Tassen auf ein Tablett und trug sie in die Küche.
»Wo geht sie hin?«, fragte George.
»Ach, dieses dumme Mädchen«, meinte Tante Elsie. »Jetzt schmollt sie bestimmt. Ihr werdet sie schlafend im Kohl finden, unter einer Purpurschwinge.«
George gluckste. »Was?«
»Fordere es nicht heraus«, warnte
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