Deadline 24
die Frau.
»Jetzt hör schon auf, ich hab die Stiefel wieder an!«
»Nee, das kommt nicht von deinen Füßen, das stinkt wie …«
»Also, ich riech gar nichts.«
»Wundert mich überhaupt nicht. Wenn du einen Geruchsinn hättest, hättste dir schon längst die Füße abgehackt. Aber das hier, das ist schlimmer, viel schlimmer, ich kenn den Gestank, den hab ich schon mal gerochen, den vergisst man nie, das stinkt wie … um Himmels willen!«, schrie sie plötzlich. »Lauf! Renn um dein Leben, das ist Hybridengestank! – Mylady!«, kreischte sie, während sie auf die Tunneleingänge zustürzte. »Hybride! Sie kommen!«
Sally verstand nicht gleich. Sie blieb hinter ihrem Distelstrauch liegen, fest auf die Erde gepresst, und hörte Fußkratzer brummen: »So ’n Quatsch, Hybride, mitten in der Nacht! Obwohl«, er schnüffelte, »jetzt, wo sie’s gesagt hat, riech ich es auch.«
Schnüffelnd stapfte er um den Wagen und knipste seine Stirnlampe an. Da erst erkannte Sally die Gefahr. Sie versuchte noch zu entkommen, aber es war zu spät. Eine schwere Faust krallte sich in ihr Hemd, und diesmal war es keine Distel, die sich verhakt hatte.
Der Kerl musste über Bärenkräfte verfügen, er hob sie auf Augenhöhe zu sich auf und betrachtete das zappelnde Mädchen, als wäre es ein abstoßendes Exemplar einer seltenen Insektengattung. »Was bist ’n du?«, murmelte er mit zusammengekniffenen Augen. »Stinkst wie ’n Hybrid, siehst aber aus wie ’n Mensch.«
Sally konnte nichts als ein Röcheln hervorbringen, ihr Hemd schnitt ihr in den Hals und würgte sie. Wie peinlich, dachte sie, wie entsetzlich demütigend. Ich zappele wie ein Fisch auf dem Trockenen, mein Hemd zieht sich aus der Hose und gleich werde ich ohnmächtig. Trotzdem versuchte sie, Fußkratzer unter sein Kinn zu boxen, und ihre Füße suchten seinen Unterleib. Sie hatte einmal gehört, man könne auch den stärksten Mann der Welt k. o. schlagen, wenn man ihn gezielt an diesen Stellen traf. Aber sie traf nicht, er wich aus.
»Hehe«, dröhnte er, »stinkt, sagt nichts und ist gemein. Bist wohl doch ein Hybrid. Neue Sorte vielleicht. Kannste auch fliegen?«
Mit der Rechten hielt er sie weiter am Kragen, die Linke griff hinten in ihren Gürtel, sodass sie bäuchlings in der Luft hing, und mit weiten Bewegungen schwang er sie vor und zurück.
»Eins …«, rief er, »zwei …«
Sally gurgelte panisch. »Nein!«, schrie sie oder wollte sie schreien, doch Fußkratzer war schon bei »drei!«. Sie fühlte, wie sie durch die Luft segelte. Gerade noch hatte sie Zeit, die Hände schützend vors Gesicht zu legen, dann schlug sie auf, mit dem Kopf zuerst.
Der Aufprall war so brutal, dass ihr die Luft wegblieb. Sekunden, vielleicht sogar minutenlang lag sie wie betäubt, unfähig, etwas anderes zu empfinden als Schmerz. Irgendwann gelang es ihr zumindest, die Schmerzen voneinander zu unterscheiden. Ihr Kopf dröhnte, ihre Handrücken brannten, ihre Unterarme ebenso, die gesamte Vorderseite ihres Körpers fühlte sich wie roh an, die Knie waren aufgeschürft. Doch sie lebte. Sie war fähig, zu sehen und zu hören.
Sie erkannte Stiefelspitzen aus schönem, glänzendem Leder, die unter zwei weiten, schwarzen Hosenbeinen hervorschauten, ebenfalls aus Leder, kostbar und weich gegerbt. Die eleganten Stiefel taten einen Schritt und eine der Spitzen bohrte sich in Sallys Seite.
»Au!«, stöhnte Sally.
»Es lebt«, sagte eine Stimme. »Hebt es auf, damit ich es ansehen kann!«
Sally wurde an den Armen gepackt und grob auf die Füße gezerrt. Sie blinzelte im hellen Licht des Scheinwerfers und sah eine Frau in einem weiten, schwarzen Mantel, unter dem eine weiße Bluse hervorleuchtete, sehr weiß, wie gerade gewaschen. Das Haar der Frau war dunkel und lockig, vereinzelt blitzten silberne Fäden darin auf.
»Ich bin Mariposa«, sagte die Frau. »Mitglied des Dreisterns von Esperanza, Lady des Hafens und der See. Und wer bist du, mein Kind?«
»Sch…«, nuschelte Sally und spuckte Blut. Sie hatte sich auf die Innenseite der Lippe gebissen. »Sally Hayden.«
»Ach«, sagte die Frau. »Jetzt wird’s interessant. Spricht sie die Wahrheit?«, wandte sie sich an einen grauhaarigen Mann hinter ihr.
Er beugte sich vor. »Nenn mir deine Familie!«
»Jonathan, mein Großvater. Angelina, meine Mutter. Paul, mein Bruder. Und Sie sind Fred Attala, ich kenne Ihre Stimme vom Funk. Wissen Sie, wo mein Bruder ist? Paul Hayden? Wir brauchen ihn zu Hause. Großvater ist krank,
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