Deadline 24
klarem Verstand sein, sie musste die Route wiederfinden. Erst scharf nach Osten, sagte sie sich, bis wir dorthin kommen, wo wir im Morgengrauen abgebogen sind, dann Nord-Nordost. Sie machte sich Sorgen, dass sie den Punkt, an dem sie die Richtung ändern mussten, nicht treffen würde, sodass sie parallel zu der Route fliegen würden, die Vater auf seiner Karte verzeichnet hatte. Allerdings wäre das kein so furchtbares Problem, sie suchten ja nicht nach einer vergrabenen Honigdose, sondern nach einer riesigen Kuppel. Da würden ein paar Meter Abweichung nicht allzu viel ausmachen.
Die letzte halbe Stunde verbrachten sie in dem stinkenden Vorraum. Graue Nacht lag jenseits der vergitterten Fenster, alles war still, nichts donnerte gegen die Tür. Um halb zehn begannen sie mit der Schwerstarbeit, den Riegel zurückzuschieben und die Tür aufzuziehen, ein paar Minuten später zwängte sich Sally durch den Spalt. Sie schrie auf, als sie auf etwas Glitschigem, Stinkigem ins Rutschen kam, aber es war kein schlafender oder ohnmächtiger Hybrid, es war bloß Kot, eklig, aber ungefährlich.
Oben am Rand der Treppe lagen ihre Schweber. Brav hatten sie Sonne getankt, zwar nicht so viel wie sonst, da ihre Flügel verstaubt und verdreckt waren, doch es würde genügen.
Alles wird gut, schoss Mutters Spruch durch Sallys Gedanken, aber sie sagte es nicht laut, sie wollte es nicht beschreien. Erst die Attala-Farm finden, und das vor den Lords, dann den Attala-Clan dazu bewegen, seine Gefangenen freizulassen, dann mit dem Helikopter nach Hause düsen, bei Sonnenschein übers Land, ungefährdet durch Hybridenangriffe. Erst dann durfte sie schreien, so laut sie wollte: »Alles wird gut!«
Kapitel 12
Sally war begeistert über ihre eigene Genialität. Nicht dass sie den Punkt, an dem sie ihre Richtung ändern mussten, nur so ungefähr getroffen hatte, nein, genau hatte sie ihn erwischt, punktgenau sozusagen. Im Grasland hinter den Geröllfeldern, dort, wo gestern die Disteln blau geleuchtet hatten, stießen sie nach nur einer halben Flugstunde auf einen von Vaters selbst gebauten Navigationspunkten. Eine gedrungene Steinpyramide, deren Spitze mit phosphoreszierender Farbe bemalt war, sodass man das geheimnisvoll grün schillernde Licht schon von Weitem erkannte. Zu allem Überfluss hatte er auf eine Seite ein grünes A gepinselt, A wie Attala, und darunter einen Pfeil gezeichnet. Sally hätte sich küssen mögen, sie hätte Vater küssen mögen, da dies leider nicht möglich war, küsste sie seine Pyramide. Auch Monnia und Carlita hüpften begeistert herum und versicherten immer wieder, dies müsse ein gutes Omen sein.
Der Rest war einfach. Schneller als erwartet, nach nur einer weiteren halben Stunde, erhob sich vor ihnen, undeutlich zwar in der nächtlichen Düsternis, doch trotzdem beeindruckend, die mächtige Attala-Kuppel. Sie war nicht größer als andere Kuppeln, auch nicht als die der Hayden-Farm, trotzdem glaubte Sally, als sie sich über die Steppe näherten, noch nie solch ein majestätisches Bauwerk gesehen zu haben. Es war ein Unterschied, ob man innen in einer Kuppel steckte oder sie von außen in ihrer Gänze zu sehen bekam.
Die Alten mussten merkwürdige Menschen gewesen sein. Sie hatten hässliche Gefängnisse gebaut mit barbarischen, lichtlosen Zellen, hatten magische Worte zusammen mit Obszönitäten an Wände gekritzelt und waren doch fähig gewesen, so wunderschöne und gleichzeitig gigantische Konstruktionen wie die Kuppeln zu errichten.
»Was jetzt?«, fragte Monnia. »Machen wir ordentlich Lärm, damit sie uns hören und uns zu ihren Tunneleingängen lotsen?«
»Weiß nicht«, sagte Sally unschlüssig.
Plötzlich waren ihr Bedenken gekommen. Was sollten sie zu Fred Attala sagen? Wie sollten sie ihn und seine Familie überzeugen, ihre Gefangenen freizulassen? Was, wenn ihnen das nicht gelänge und die Attalas, statt sechs Gefangene freizulassen, drei weitere nähmen? Padrino würde geifern, wenn er sie hier vorfände, noch allzu gut hatte sie seine Worte im Ohr: »Offene Rebellion werde ich nie verzeihen.« Er würde ihnen, schneller, als sie schauen konnten, sein Messer in die Kehle rammen, oder sie würden sich morgen früh alle zusammen unter freiem Himmel an Pfähle gebunden vorfinden.
»Erst mal die Lage sondieren«, beschloss sie. »Lasst uns nachsehen, ob der Helikopter überhaupt hier ist.«
Langsam umflogen sie die Kuppel. Einer plötzlichen Eingebung folgend löschte Sally ihr Licht und
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