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Deadwood - Dexter, P: Deadwood

Deadwood - Dexter, P: Deadwood

Titel: Deadwood - Dexter, P: Deadwood Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pete Dexter
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sofort. Es war irgendwo tief in ihm vergraben. Er versuchte nicht, es zu finden, und er versuchte nicht aufzustehen. Er war schwach, aber er fühlte sich wohl. Im Dunkeln sang sie ihm vor.
    Ihm war nicht bewusst, wie die Zeit verflog, nur dass sie verflogen war. Er wusste auch, dass er nicht ewig im Wagen liegen bleiben konnte. Auf der Straße hörte er Leute reden, und er ahnte, dass er irgendwann wieder dort hinausgehen musste. Aber damit hatte er keine Eile. Er lag im Wagen und harrte der Dinge, die da auf ihn zukommen würden.
    Bei Tagesanbruch wusch sie ihn und redete mit ihm, während sie den Waschlappen zuerst an der schwarzen Seife rieb, dann an ihm. Sie wusch seine Brust und die Arme. Sie hielt seinen Pimmel in eine Milchflasche, damit er hineinpissen konnte. Er beobachtete alles, was sie tat, und hörte bei allem zu, was sie sagte.
    Sie begann, ihn ihr »Baby« zu nennen. »Wann redest du endlich mit mir?« fragte sie. Und: »Du wirst deiner Mama doch nicht wegsterben, oder? Du bist alles, was deine Mama hat …«
    Es kam ihm nie in den Sinn zu antworten. Sie fütterte ihn löffelweise mit Milch und Suppe, während sie seinen Kopf in der Armbeuge hielt. Sein Mund tat nicht mehr weh, wenn etwas hineingesteckt wurde.
    Dann, eines Morgens, hörte er draußen eine Stimme. Lauter als die üblichen Stimmen auf der Straße. Er lag an ihre Schulter gelehnt, als er sie vernahm, und er wusste sofort, dass sie zu ihm sprach. »Lieber Gott«, sagte die Stimme, »hilf den Traurigen, den Schwachen und den Verlorenen unter uns. Verleihe uns Deine Stärke, sodass wir Dein Werk besser verrichten können und unseren Weg zurückfinden zu Dir, von diesem Ort, voll von Deinen Feinden …«
    Er setzte sich auf und schaute aus der vorderen Öffnung des Wagens hinaus auf die Straße. Ein dünner Mann mit grauem Gesicht stand auf einer Kiste vor einer Ansammlung von Goldgräbern und hielt eine Bibel vor dem Gesicht, als würde er mit ihr reden.
    Auf Händen und Knien krabbelte der Junge nach vorne zur Wagenöffnung. »Das ist ein Prediger«, sagte sie hinter ihm. »Er versucht, die Sünder vor der Hölle zu retten.«
    Der Junge fing an, aus dem Wagen zu klettern. Er war der Schwache und der Verlorene und der Traurige, und der Prediger war seinetwegen gekommen. Sie griff von hinten nach ihm. »Meine Güte, Baby«, sagte sie, »für die Kirche bist du nicht richtig angezogen.« Aber er war zu stark für sie und riss sich los. Er kletterte aus dem Wagen, splitterfasernackt und auf wackeligen Beinen, und ließ sich auf den Boden fallen.
    Der Prediger verstummte, als er die Freudenmädchen kreischen hörte. Ein paar von ihnen hatten sich unter die Goldgräber gemischt und wollten noch schnell die Morgenandacht mitnehmen, bevor sie zu Bett gingen. Sie hatten die letzte Nacht unbekleidet mit dem einen oder anderen Goldgräber verbracht, aber beim Anblick des Jungen, der bleich, nackt und dürr aus Charley Utters Camp getapst kam, fingen sie an zu kreischen.
    Der Junge bewegte sich auf den Methodisten zu, und die Goldgräber machten ihm Platz. Auch sie fühlten sich angesichts eines unbedeckten Jungen ein wenig unwohl. Der Junge schien weder das Kreischen noch die Goldgräber wahrzunehmen. Er hatte nur Augen für den Methodisten auf der Kiste.
    Der Methodist sprach zuerst. »Was hast du, Junge?«
    Der Junge begann zu sprechen, aber seine Kehle war trocken und seine Stimme ungeübt. Die Hälfte der Laute hätten ebenso gut von einem Habicht stammen können, aber schließlich konnte er sich doch verständlich machen. »Ich bin derjenige, wegen dem Sie gekommen sind.« Dies löste bei den Mädchen erneut Aufregung aus, aber der Methodist nahm es ernst. Er starrte den Jungen an und entschied dann: »Hole ihm jemand eine Decke.« Als sich niemand bewegte, stieg der Prediger von seiner Kiste, ging zu dem Jungen und legte ihm seinen Mantel um.
    Der Junge ließ dies zu. Der Methodist sah ihm in die Augen, und der Junge erwiderte seinen Blick.
    »Das mag sein«, sagte der Methodist.
    Jane beobachtete das alles von der Bank des Planwagens aus. Ihre Whiskeyflasche war noch zu einem Drittel voll – die halbe Woche lang hatte sie nicht mehr getrunken –, und nun zog sie den Korken heraus in der Absicht, sie leer zu machen. Der Prediger stellte sich wieder auf seine Kiste, führte die Huren und Goldgräber durch die Gebete Gottes und entließ sie dann, ohne noch die Kollekte herumreichen zu lassen. Den Jungen nahm er mit.
    Jane war zum Heulen zumute.

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