Deathbook (German Edition)
nicht wahr sein! Ich hatte ihr doch gesagt, sie solle den Code nicht scannen!
«Du hast den Code gescannt?»
«Es tut mir leid … wirklich … ich wollte doch nur … ich konnte doch nicht wissen, was er damit gemeint hat …»
Jetzt weinte sie. Was immer sie auf der Seite gesehen hatte, es hatte sie zutiefst verstört.
«Bleib ganz ruhig, Ann-Christin, hörst du. Niemand wird dir etwas tun, ich verspreche es. Es dauert nicht mehr lange, wir sind bald bei dir.»
«Bitte, beeilen Sie sich, der Akku ist auch gleich leer … ich muss … Moment, es hat geklingelt. Ist das die Polizeistreife?»
«Warte kurz …»
Ich nahm das Handy vom Ohr und wandte mich Manuela zu.
«Klingeln die Jungs gerade bei Ann-Christin?»
Manuela gab mir ein Zeichen, still zu sein. Ich wartete. Eine Sekunde, zwei, drei … ich nahm das Handy wieder ans Ohr: «Ann-Christin, bist du noch da?»
Keine Antwort, aber die Verbindung stand noch.
Manuela tippte mich an. Sie schüttelte den Kopf. «Die Streife braucht noch zehn Minuten. Sie wurden durch einen Unfall aufgehalten.»
«Scheiße … Ann-Christin, geh nicht an die Tür!», brüllte ich ins Handy.
Keine Antwort.
«Ann-Christin, bist du noch da? Wenn du mich hörst, geh nicht an die Tür, mach nicht auf. Das ist nicht die Polizei. Bitte … hörst du mich?»
Die Verbindung war unterbrochen.
D ie Schlinge, die sich in dem Video um den Hals des Mädchens zugezogen hatte, hatte sich gleichsam auch um Ann-Christins Hals gelegt. Sie bekam nur noch schwer Luft und fühlte sich wie betäubt. Als sie aufstand, um zur Tür zu gehen, wurde ihr schwindelig.
Jetzt wusste sie, was Anima Moribunda mit «einer anderen Sichtweise auf den Tod» gemeint hatte. Und jetzt wünschte sie sich, sie hätte diese Sichtweise niemals kennengelernt. Sie war nur froh, dass sie in dieser Nacht nicht mehr allein bleiben musste, denn das hätte sie nicht ausgehalten. Sie hatte längst nicht alle Bilder und Filme auf der Deathbook-Seite angeschaut, dafür waren es zu viele. Die, die sie gesehen hatte, reichten aus. Ann-Christin wusste, dass sie sie bis in ihre Träume verfolgen würden, dass sie sie womöglich nie wieder vergessen würde.
Wie konnte ein Mensch so grausam sein?
Was dachte er sich dabei? Auch der verwirrteste Geist und die schwärzeste Seele mussten doch einen Grund haben für ihr Tun.
Eines war Ann-Christin beim Betrachten der Seite klargeworden: Es ging diesem Menschen offenbar darum, den intimsten Moment im Leben eines Menschen mit der Kamera festzuhalten. Das Sterben. Den Übergang vom Leben in den Tod. Aber warum? Was hatte er davon?
Mit dem eingeschalteten Smartphone in der Hand ging Ann-Christin zur Haustür. Hinter ihren Schläfen pochte der Kopfschmerz, und sie spürte Übelkeit aufsteigen. Auf dem Flur musste sie sich mit einer Hand an der Wand abstützen, um nicht zu stürzen.
Durch die Milchglasscheibe der Haustür sah sie einen großen Schatten.
Die Polizei. Gott sei Dank!
Sie wollte keine Minute länger allein bleiben.
Sie presste ihr Handy ans Ohr, um dem Schriftsteller zu sagen, dass sie in Sicherheit sei, doch das Gespräch war weg. Der Akku des Telefons war leer. Ann-Christin öffnete die Tür. Ein feuchter Sprühnebel legte sich über ihr Gesicht. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten.
Und sie fiel.
D er Streifenwagen der lokalen Polizei war schon vor Ort, als wir endlich eintrafen. Die beiden Beamten erwarteten uns vor dem Haus.
«Die Haustür stand offen», sagte der jüngere der beiden Männer. Er hatte flachsblondes Haar und blaue Augen. «Wir haben das Haus abgesucht, es ist niemand da.»
Manuela hatte während der restlichen Fahrt telefonisch mit der Einsatzzentrale Kontakt gehalten. Über die Freisprechanlage in ihrem Wagen hatten wir alles mitbekommen. Zehn Minuten nachdem ich Ann-Christin am Telefon verloren hatte, waren die Beamten am Haus angekommen. Es waren die längsten zehn Minuten meines Lebens gewesen. Immer wieder hatte ich verzweifelt versucht, das Mädchen zu erreichen. Vergeblich. Ich hatte es auch über Facebook versucht. Nichts. Manuela und ich hatten nicht darüber sprechen müssen, es war uns beiden klar gewesen, wer an Ann-Christins Haustür geklingelt hatte. Es kam nur eine Person in Frage.
Zehn Minuten. Verfluchte zehn Minuten zu spät.
«Sind Ihre Kollegen in der Gegend unterwegs?», fragte Manuela die Beamten.
«Alle verfügbaren Streifen sind unterwegs. Wir suchen nach
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