Deathbook (German Edition)
befand? Hinter diesem Schleier gleißte das Licht, und von irgendwo aus den hellen Sphären drang auch die Musik zu ihm. Der Gedanke, tot zu sein, traf ihn mit voller Wucht. Was sollte dies sonst sein, wenn nicht der Himmel? Aber es fühlte sich nicht richtig an. So hatte er sich den Himmel nicht vorgestellt.
Wie war er hierhergekommen? Was war passiert?
Jan konnte sich erinnern, dass er eine ganze Weile an den Daten gearbeitet hatte, die Andreas ihm vom Rechner des verstorbenen Peter Thaumann geschickt hatte. Diese Sache hatte ihn nicht mehr losgelassen. Einerseits war er abgestoßen gewesen, andererseits aber auch fasziniert. So fasziniert, dass er sich das Video auf Andreas’ Smartphone doch noch angeschaut hatte. Danach hatte er sich gewünscht, er hätte es nicht getan. Ein Stück von ihm selbst war mit diesem bedauernswerten Mädchen auf dem Eisblock gestorben. Das Video, nein, die Vorgehensweise des Täters war an Grausamkeit nicht zu überbieten, und Jan hatte sich vorgenommen, dabei zu helfen, diesen Irren dingfest zu machen. Wenn der Täter sich auf irgendwelchen Servern dieser Welt versteckte, würde er ihn finden. Bisher war er die Sache nur halbherzig angegangen. Andreas hatte ihn damit überfallen, und das auch noch zu einem Zeitpunkt, an dem er eigentlich für nichts anderes Zeit hatte als sein neues Projekt. Aber jetzt würde er sich die Zeit nehmen.
Aber was war dann passiert?
Er hatte nichts Brauchbares gefunden in dem Datensatz. Oder doch? Jan konnte sich nicht erinnern. Irgendwann hatte er die Arbeit unterbrochen, um ins nur hundertfünfzig Meter entfernte Fitnessstudio zu gehen. Das tat er oft, wenn er gedanklich feststeckte. Nach einer anstrengenden Trainingseinheit lief es meistens wie geschmiert.
War er überhaupt im Studio gewesen?
Er konnte sich nur vage und bruchstückhaft erinnern, aber die Erinnerung konnte auch vom Vortag stammen.
Der Weg zum Studio. Über den Parkplatz des Supermarktes, an den Altglascontainern vorbei, zwanzig Meter durch den verwilderten Grünstreifen, weil das eine Abkürzung war. Etwas Feuchtes in seinem Gesicht, so als sei er in ein nasses Spinnennetz gelaufen …
Jan quälte seinen Geist, aber mehr konnte er nicht aus ihm herauspressen.
Deshalb konzentrierte er sich erneut auf seine Umgebung. Auf den seltsam niedrigen Himmel. Je länger er hinsah, desto mehr Details erkannte er. Da hingen ein paar winzige Wasserperlen. Hin und wieder löste sich eine und fiel herunter. Eine tropfte auf seine Wange und rann daran herunter. Das kitzelte. Automatisch wollte er sich dort kratzen, aber er konnte sich überhaupt nicht bewegen. Keinen Millimeter.
Nein, er war nicht im Himmel. Im Himmel wurde man nicht gefesselt, und was Jan an seinen Handgelenken spürte, waren eindeutig Fesseln, dünne Riemen, die ihm überhaupt keinen Spielraum ließen. Seine Arme waren eng an seinen Körper gepresst. Er konnte nur die Schultern bewegen. Bei den Beinen war es dasselbe. Er konnte das Becken ein wenig anheben, nicht aber die Knie oder die Füße. Und seinen Kopf konnte er auch nicht bewegen. Als er es versuchte, spürte er sofort einen unbarmherzigen Druck auf den Kehlkopf.
Jan kämpfte eine Weile gegen die Fesseln an, doch das brachte ihm nichts ein außer Atemnot. Schließlich ließ er es sein und lag still da. Er konnte besser atmen, aber es erschien ihm, als sei die Luft irgendwie dicker geworden. Sie ließ sich nur noch sehr schwer einsaugen und gelangte auch nicht tief genug in die Lunge.
Was war das für eine Scheiße?
Jan spürte Panik.
An dem diffusen Himmel hatten sich jetzt unzählige Tröpfchen gesammelt.
War das etwa …
Nein, bitte nicht, oh Gott, nein!
Das war sein kondensierter Atem.
V erena Thiel, Ann-Christins Tante mütterlicherseits, traf fünf Minuten später ein. Sie war nicht allein, ihr Lebensgefährte begleitete sie. Er stellte sich als Gustav Musiol vor. Der Mann war mir von der ersten Sekunde an unsympathisch. Ich roch Alkohol in seinem Atem, und die schartige, von geplatzten Äderchen überzogene Nase ließ erahnen, wie häufig und intensiv er soff.
Zuerst ging Manuela mit der Tante in Ann-Christins Zimmer hinauf, um nach einem Foto zu suchen. Die Tante behauptete zu wissen, wo eins zu finden sei. Ich blieb derweil mit Gustav in der Küche. Leider fühlte er sich verpflichtet, mir seine Sicht der Dinge detailliert auseinanderzusetzen.
«Das war der Lutz, auf jeden Fall», legte er los. «Sie kennen den nicht, aber der ist zu allem
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