Deathbook (German Edition)
hatte wirklich starkes Interesse am Tod. Aber trotzdem … ich glaube das einfach nicht.»
Sie nickte, trank einen Schluck Kaffee und sah mich dann wieder an.
«Und was hoffen Sie von Marco zu erfahren?»
«Ich will eigentlich nur ausschließen, dass die beiden in der Nacht zusammen an der Gleisstrecke waren.»
«Okay, das ist verständlich. Wie war denn das Gespräch mit meinem Kollegen?»
«Mit Herrn Altmaier?»
Ich hatte den Namen noch nicht ganz ausgesprochen, da sah ich, wie er quer durch die Cafeteria lief und auf den Tresen zusteuerte. Wenn man vom Teufel spricht …
Altmaier sah flüchtig zu mir herüber, dann wieder nach vorn, stockte und schien erst jetzt zu registrieren, wen er da gesehen hatte. Sein nächster Blick war eine Überraschung: erschrocken, vielleicht sogar panisch, und mit einer deutlichen Abneigung darin, die ich durch nichts hervorgerufen haben konnte und die völlig unangebracht war.
«Ja», fuhr Astrid Pfeifenberger fort, «hat er Ihnen weiterhelfen können?»
Ich hatte ein wenig Mühe, mich auf sie zu konzentrieren.
«Nein, nicht wirklich. Dieser Text, den er mir gezeigt hat, der war wirklich interessant, aber sonst … ich weiß nicht … Ihr Kollege scheint sich mit der Suiziderklärung anfreunden zu können.»
«Den Eindruck habe ich auch», sagte die Lehrerin, «aber ich denke nach wie vor, er täuscht sich. Kathi war keine Kandidatin für einen Suizid. Sie war beliebt, und von Mobbing habe ich nie etwas mitbekommen. Ich weiß natürlich nicht, was online bei ihr lief, aber hier in der Schule war alles in Ordnung.»
Es war, als ob ihr letzter Satz einen Vorhang beiseiteriss. Das war es: Es ging um das, was online bei Kathi gelaufen war. Und nur darum. Dort würde ich eine Erklärung finden. Online. Im Netz. In der undurchschaubaren digitalen Welt, in der alles möglich schien.
«Da drüben, am Fenster, das ist übrigens Marco», sagte Astrid Pfeifenberger und riss mich aus meinen Gedanken.
Sie gab dem Jungen ein Zeichen, und er schlenderte mit deutlichem Widerwillen zu uns herüber.
Der Tod ist nichts
Der Tod ist nichts,
ich bin nur in das Zimmer nebenan gegangen.
Ich bin ich, ihr seid ihr.
Das, was ich für euch war, bin ich immer noch.
Gebt mir den Namen, den ihr mir immer gegeben habt.
Sprecht mit mir, wie ihr es immer getan habt.
Gebraucht keine andere Redeweise,
seid nicht feierlich oder traurig.
Lacht weiterhin über das,
worüber wir gemeinsam gelacht haben.
Betet, lacht, denkt an mich,
betet für mich,
damit mein Name ausgesprochen wird,
so wie es immer war,
ohne irgendeine besondere Betonung,
ohne die Spur eines Schattens.
Das Leben bedeutet das, was es immer war.
Der Faden ist nicht durchschnitten.
Weshalb soll ich nicht mehr in euren Gedanken sein,
nur weil ich nicht mehr in eurem Blickfeld bin?
Ich bin nicht weit weg,
nur auf der anderen Seite des Weges.
Mittlerweile kannte Ann-Christin jedes Wort des Textes auswendig. Die Worte hatten ihr während der Beerdigung ihrer Mutter Halt gegeben, daran hatte sie sich von Minute zu Minute weitergehangelt, um nicht wieder zusammenzubrechen wie im Beerdigungsinstitut. Der nette Inhaber, der sie dort getröstet hatte, war am Grab auf sie zugekommen und hatte ihr nochmals sein Beileid ausgedrückt. Er und einige andere, die wie Schemen an ihr vorbeigezogen waren, ohne dass Ann-Christin sie wirklich wahrgenommen hätte. Während der ganzen Zeremonie war sie wie in Trance gewesen und hatte in ihren Gedanken wieder und wieder ihren Text gesprochen.
Ihre Tante Verena hatte sie vom Friedhof aus nach Hause gefahren. Gustav war dort geblieben, um sich um die anderen Gäste zu kümmern und mit ihnen in ein Lokal zum Leichenschmaus zu gehen. Viele waren es nicht gewesen, vielleicht ein Dutzend. Ann-Christins Vater war nicht gekommen. Die Rückfahrt hatten sie schweigend verbracht. Erst als ihre Tante sie an der Haustür verabschiedet hatte, hatte sie wieder etwas gesagt. Aufmunternde Worte darüber, dass das Leben weitergehen musste. Und dass Ann-Christin jederzeit zu ihr kommen könne, wenn sie Hilfe benötigte.
Ann-Christin wusste schon jetzt, dass sie dieses Angebot nicht annehmen würde, allein schon wegen des ewig meckernden Gustav. Sie wusste auch gar nicht, wie man um Hilfe bat. Ihre Mutter und sie hatten sich so lange allein durchgeschlagen, dass es für Ann-Christin inzwischen selbstverständlich war, sich ihren Problemen allein zu stellen.
Nein, nicht ganz allein. Denn wie hieß es in
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