Deathbook (German Edition)
Heute früh im Bus hatte er versucht zurückzurufen. Nach dem sechsten Läuten war die Verbindung einfach unterbrochen worden.
Tommy steckte das Handy weg und hob den Blick. Mit ihm saßen zwölf weitere Schüler im Klassenraum, acht Mädchen und vier Jungs. Sie alle befanden sich im freiwilligen Nachmittagskurs von Dr. Hesse, «Vertiefende Mathematik für die Oberstufe». Nach einer Sechs in der letzten Klausur hatte sein Klassenlehrer ihm sehr dazu geraten, und seine Eltern hatten ihn dazu gezwungen. Leider ging es Dr. Hesse nicht darum, schwächeren Schülern weiterzuhelfen. Er wollte nur die Elite um sich versammeln und sich in ihrem Glanz sonnen.
Es war vierzehn Uhr. In fünfzehn Minuten würde die Doppelstunde beendet sein. Seit einer halben Stunde saßen alle Teilnehmer mit gesenkten Köpfen über einer Aufgabe, die Dr. Hesse ihnen an die Tafel geschrieben hatte. Tommy konnte niemanden ausmachen, der mit seinem Handy herumspielte oder ihn aus den Augenwinkeln beobachtete. Dabei war er sich sicher, dass das alles nur eine große Verarsche war. Sein konnte. Jemand aus der Schule musste dahinterstecken. Aber wahrscheinlich niemand aus diesem Kurs. Das waren alles Streber, die für so etwas keine Zeit hatten.
Er konnte sich weder konzentrieren noch länger stillsitzen. Zudem quälte ihn seit einer Weile seine Blase. Da der Kurs letztlich freiwillig war, entschied Tommy sich, früher zu gehen. Er stopfte seine Sachen in die Tasche, meldete sich und erklärte, ihm sei schlecht und er müsse dringend auf die Toilette. Mit einem gleichgültigen Kopfnicken bedeutete Dr. Hesse ihm, er solle verschwinden. Tommy verließ eilig den Klassenraum. Er war gespannt darauf, wem er in der Aula oder vor der Schule begegnen würde. Wer auch immer ihn seit Tagen verarschte, würde doch sicher sehen wollen, ob er Erfolg hatte mit seiner Masche.
Eine Weile hatte er geglaubt, dass da draußen jemand herumlief, der allen Ernstes so eine perverse Sache abzog. Aber seit dem Video von heute früh glaubte er das nicht mehr. Nein, dahinter steckte einer seiner Kumpels, und Tommy hatte nicht vor, ihm noch länger auf den Leim zu gehen.
Er lief die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. In der weitläufigen Aula sah er sich um. Da die offizielle Pausenglocke erst in zehn Minuten läuten würde und um diese Zeit ohnehin nicht mehr viele Schüler da waren, war es leer und still. Niemand zu sehen. Tommy lief den Gang nach rechts hinunter und betrat die großen Toilettenräume für Jungs.
Darin roch es scharf nach Putzmittel. Die zwanzig in einer Reihe aufgehängten Becken glänzten blitzblank. Tommy ging an den zehn Türen der Kabinen vorbei bis zur letzten. Alle Türen waren angelehnt, keine Kabine war besetzt. Zum Glück! Er hasste es, wenn ihn jemand bei seinem Geschäft hören konnte.
Er schloss sich in die letzte Kabine ein, warf die Tasche zu Boden, zog die Hose runter, ließ sich auf die eiskalte Klobrille fallen und legte los. Großer Gott, er wäre beinahe geplatzt! Er holte sein Handy hervor und öffnete die letzte SMS noch einmal. Diese Zahlen, waren das etwa Koordinaten? Zusammen mit der Uhrzeit und der Aufforderung ergab das Sinn.
Er würde auf keinen Fall dorthin gehen.
Als er fertig war und gerade die Klospülung drücken wollte, hörte er, wie die Tür zu den Toilettenräumen auf und wieder zuging. Ganz leise, so als schliche sich jemand hinein. Tommys Hand verharrte über der Spültaste. Sein Herz begann zu rasen. Mucksmäuschenstill lauschte er.
Leise Schritte näherten sich. Gummisohlen auf Fliesen. Jetzt verstummten sie. Eine Kabinentür wurde geöffnet, aber nicht wieder geschlossen. Tommy hörte keine Verriegelung einrasten. Dann wurde die nächste Tür geöffnet und stieß gegen die Sperrholzwand. Gleich darauf die dritte.
Scheiße! Jemand überprüfte die Kabinen!
Tommy hing mit entblößtem Hinterteil über der Klobrille und wusste nicht, was er tun sollte. Er wagte kaum noch zu atmen. Wer war das? Die Putzfrau? Der Hausmeister? Oder doch jemand ganz anderes? Vor Tommys geistigem Auge erschien die grässliche Maske mit den Blutfäden vor den Augen. Dazu die verzerrte Stimme, die sich tief in seinen Kopf gebohrt hatte.
Leiste deinen Beitrag, sonst drehen wir ein Video davon, wie DU stirbst.
Die nächste Tür schlug gegen die Holzwand.
Dann die neben seiner Kabine.
Einen Lidschlag später schoben sich ein paar schwarze Schuhe vor die Tür, hinter der Tommy saß. Die Spitzen zeigten in seine Richtung. Jemand
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