Deathbook (German Edition)
dem Text von Scott Holland:
Sprecht mit mir, wie ihr es immer getan habt.
Wenn der Tod nichts war und sich nichts änderte, nur weil sie Mama nicht mehr sehen und anfassen konnte, dann war Ann-Christin nicht allein. Nicht im Geiste.
«Du bist bei mir, nicht wahr?», sagte sie leise in die Stille ihres Zimmers hinein.
Sie saß im Schneidersitz auf dem Bett, vor sich ihren Laptop. Den einzigen Trost seit Mamas Tod fand sie im Internet. Und Ann-Christin war sich sicher, dort noch viel mehr zu finden. Vielleicht würde sie über dieses Medium ja sogar mit Mama sprechen können? Warum denn nicht? Wenn die Lebenden im Internet waren, waren die Toten vielleicht auch dort.
Ihre Finger flogen über die Tastatur.
«Mit Toten sprechen» gab sie ein.
Und Google lieferte ihr zuverlässig fast fünf Millionen Möglichkeiten dazu.
U nd vergiss nicht, die Lichter und den Fernseher auszuschalten, bevor du schlafen gehst.»
«Jaja, mach ich.»
«Vor ein Uhr sind wir sicher nicht zurück. Willst du nicht vielleicht doch lieber zu den Meiers rübergehen und …»
«Mama, bitte. Ich bin sechzehn. Ich brauche keinen Babysitter mehr.»
«Unser TommyX 5 ist schon erwachsen, also nerv ihn nicht, Schatz», sagte Tommys Vater ironisch. Er trat mit seinem Mantel über dem Arm in den Flur und roch viel zu stark nach dem teuren Parfum, das Mama ihm jedes Jahr zu Weihnachten schenkte.
Er streckte seinen Zeigefinger aus und deutete auf Tommy.
«Eine Beschwerde wegen Ruhestörung aus der Nachbarschaft oder ein Fleck, gleich welcher Art, auf dem Teppich im Wohnzimmer, und du kannst dein Taschengeld vergessen.»
Damit wandte er sich ab, öffnete die Haustür, drehte sich aber noch einmal um. «Ach ja, und lass die Finger von meiner DVD -Sammlung. Du bist sechzehn, keine achtzehn.»
«Ach, Dad, bitte.»
«Wir sind hier nicht in Amerika. Also nenn mich nicht so. Tschüss.»
Tommys Vater verließ das Haus. Seine Mutter nahm ihre Handtasche von der Garderobe, überprüfte ein letztes Mal ihre Frisur im Spiegel und drückte ihm dann einen Kuss auf die Wange. Tommy spürte den Lippenstift auf seiner Haut kleben. Mama malte sich immer so schrecklich übertrieben an, wenn sie zu einer Party bei den Kirchbergers gingen, ihren reichen Tennispartnern.
«Ich will auch nicht, dass du dir diese Filme ansiehst. Sei brav, mein Schatz.»
«Ja, bis morgen.»
Tommy blieb in der geöffneten Tür stehen und sah dabei zu, wie Papa seinen Mercedes rückwärts aus der Einfahrt auf die Straße setzte. Er hob den Arm zu einem letzten lahmen Gruß, dann verschwand der Wagen hinter der Kurve. Tommy wollte sich abwenden, hielt aber noch einmal inne. Für einen Moment glaubte er, unter der Straßenlaterne auf der anderen Straßenseite jemanden stehen zu sehen. Er trat einen Schritt in den Vorgarten hinaus und sah genauer hin. Nein, da war niemand. Nur der Buchsbaum der Meiers. Der war wie ein Kegel zurechtgestutzt und sah von weitem aus wie ein Mensch.
Tommy schüttelte den Kopf, ging ins Haus und warf die Tür hinter sich zu. Er ärgerte sich über sich selbst. Obwohl er eigentlich wusste, dass alles nur ein blöder Scherz gewesen war, war die Angst immer noch nicht ganz verschwunden.
Noch eine halbe Stunde nach der Sache auf der Schultoilette hatten ihm die Knie gezittert. Jetzt konnte er darüber lachen, aber als die Füße vor der Tür aufgetaucht waren und er jemanden schwer atmen gehört hatte, hatte er geglaubt, sein Leben sei zu Ende. Dabei war es nur Dr. Hesse gewesen. Der hatte vermutet, dass Tommy Drogen konsumierte, und war ihm deshalb gefolgt. Verflucht, war das peinlich gewesen. Beinahe wäre er vor diesem spießigen alten Kerl mit nacktem Arsch auf die Kloschüssel gestiegen, damit man unter der Tür hindurch seine Füße nicht sehen konnte.
In der Toilette hatte er wirklich beschissene Angst gehabt, aber im Laufe des Tages war sie wieder von ihm abgefallen. Die Sache war vorbei. Morgen würde ihm einer seiner Buddys auf die Schulter klopfen und ihn fragen, warum er nicht dorthin gekommen war, wohin die Koordinaten ihn hatten locken sollen. Er war froh, diesen Idioten den Gefallen nicht getan zu haben.
Tommy ging vom Flur ins Wohnzimmer und blieb vor dem Regal stehen, in dem sein Vater seine DVD -Sammlung aufbewahrte. Auf der rechten Seite befanden sich die Romanzen und Komödien, die Dramen und Märchen. Filmstoff, auf den Tommy schon seit Jahren nicht mehr stand. Worauf er stand, befand sich auf der linken Seite des Regals.
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