Deathbook (German Edition)
gehen Sie behutsam vor, vor allem Theresa ist noch immer sehr verschlossen, wenn es um Kathi geht. Ich habe mich gewundert, dass sie überhaupt mit Ihnen sprechen will. Sie haben eine Viertelstunde, bevor die beiden zum Sportunterricht müssen.»
Astrid Pfeifenberger hatte recht. Theresa war verschlossen. Außer einem Hallo sagte sie in den ersten fünf Minuten des Kennenlernens gar nichts. War sie vielleicht nur im Klassenzimmer geblieben, um auf ihre deutlich gesprächigere Freundin Viola aufzupassen? Ihre missbilligenden Blicke ließen diese Vermutung jedenfalls zu.
«Ich zeig Ihnen mal was», sagte Viola und tippte flink mit ihren blau lackierten Fingernägeln auf dem Display ihres Smartphones herum. Seit ich hier bei ihnen saß, hatte keines der Mädchen sein Handy auch nur eine Sekunde aus der Hand gelegt. Theresa, nach Astrid Pfeifenbergers Auskunft Kathis beste Freundin, hatte sogar ständig den Blick darauf geheftet. Sie hatte nicht einmal bei der Begrüßung aufgeschaut.
«Hier.»
Viola hielt das Handy so, dass ich den großen Bildschirm sehen konnte. Dort startete gerade ein Video.
«Aber nicht erschrecken», sagte das Mädchen noch. Da war es schon zu spät.
Auf dem Bildschirm erschien Kathi. Erst nur ihr fröhliches, offenes Gesicht, wie immer mit einem verschmitzten Lächeln.
«Hi», sagte sie. Die Tonqualität war erstaunlich gut. «Darf ich euch meine neuen Freunde vorstellen.»
Die Kamera zoomte aus ihrem Gesicht und offenbarte, wen sie mit «neue Freunde» meinte. Rechts und links auf ihren Schultern saßen zwei der ausgestopften Ratten, die ich draußen in der Aula in der Vitrine gesehen hatte.
«Das sind Frank und Dean», sagte Kathi und nickte einmal nach rechts und links. «Mein Ratpack.»
Die Kamera zoomte jetzt auf Frank, der auf ihrer rechten Schulter saß. Ganz nah heran an die schwarzen Augen und die scharfen Schneidezähne.
Aus dem Off sprach Kathi weiter.
«Im Mittelalter galten Ratten als Todesboten, weil sie die Pest übertrugen. Dabei waren sie gar nicht Schuld. Es waren ihre Flöhe, die die Bakterien von der Ratte auf den Menschen übertrugen. Winzig kleine Tiere übertragen noch winzigere Lebewesen auf einen Menschen, und der stirbt daran. Ist es nicht krass, wie wenig es braucht, einen Menschen zu töten? Und ist es nicht faszinierend, welche Möglichkeiten dem Tod zur Verfügung stehen? Ein Bakterium, ein Virus – und schnipp: Weg bist du.»
An dieser Stelle hörte man Kathi mit den Fingern schnippen, und dann war das Video zu Ende.
Viola nahm ihr Handy herunter. «So was hat sie damals, als wir die Projektgruppe hatten, dauernd gemacht. Hat immerzu vom Tod gequatscht und wie faszinierend das alles sei. Kathi ist richtig aufgegangen in dem Projekt und hat sogar die beste Note bekommen.»
«Das war doch nur Spaß», unterbrach Theresa sie plötzlich ungehalten.
«Dachte ich ja auch, und weil ich es witzig fand, habe ich das Video behalten, aber jetzt … nach dieser Sache … vielleicht … ach, ich weiß auch nicht», versuchte Viola sich gegen ihre Freundin zu verteidigen.
«Hattet ihr beiden den Eindruck, dass Kathi niedergeschlagen war in der letzten Zeit?»
«Vielleicht», sagte Viola und zuckte mit den Schultern. «Ich meine, na ja, sie war auch nicht immer nur gut drauf. Schlimme Sachen konnten sie echt fertigmachen.»
Ich wusste genau, was das Mädchen meinte. Ich konnte mich noch gut erinnern, wie herzzerreißend Kathi nach dem Sandy-Hook-Massaker geweint hatte. Aber das war es nicht, worauf ich hinauswollte.
«Aber hat sie nicht vielleicht davon gesprochen, dass sie … na ja, ihr wisst schon, auf all das keine Lust mehr hat.» Ich hob die Hände, deutete auf den Klassenraum und ließ sie wieder sinken. Das war mehr als ungeschickt ausgedrückt für jemanden, der seine Brötchen mit Schreiben verdiente, aber ich brachte die richtigen Worte einfach nicht heraus. Worte wie Selbstmord hatten nichts zu suchen in einem Satz mit Kathis Namen darin.
Viola zuckte mit den Schultern. «Keine Ahnung, aber sie hat mal gesagt …»
«Willst du jetzt alles wiederholen, was Kathi jemals gesagt hat?», unterbrach Theresa sie rüde.
Die beiden wechselten einen vielsagenden Blick. Ich kam mir wie ein Eindringling vor, der in dieser Schulwelt nichts zu suchen hatte.
«Hört zu», begann ich, «ihr müsst nicht mit mir reden, ich verstehe das, kein Problem. Was ich aber nicht verstehe, ist Kathis Tod. Ich kann einfach nicht glauben, dass sie sterben wollte.
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