Deathbook (German Edition)
misstraue er mir, setzte mir noch mehr zu. Übel nahm ich es ihm nicht, er war traumatisiert. In diesen Tagen hätte er mich schlagen und beleidigen können, es hätte unserer Beziehung keinen Abbruch getan.
«Nein», sagte ich und sah ihm fest in die Augen. «Ich weiß nicht mehr als du. Aber ich weiß, dass Kathi sich niemals umgebracht hätte. Und das kann mir auch niemand weismachen.»
«Aber die Polizei sagt …»
«Ach», unterbrach ich ihn scharf, «was wissen die denn schon. Die kannten deine Tochter doch gar nicht. Es ist die einfachste Erklärung, deshalb wird sie leichtfertig akzeptiert.»
«Aber … aber was soll ich tun? Ich meine … ich weiß nicht, was ich tun soll.»
«Lass dir von mir helfen», sagte ich. «Wenn du wissen willst, was wirklich passiert ist, dann lass dir von mir helfen.»
Sein Blick wurde jetzt eindringlich, fast schon flehend. «Okay … okay, ja, ich will es wissen, egal, was es ist.»
«Und Iris?» Ich wusste natürlich, wie schlecht es ihr ging. Iris wollte nur um ihr Kind trauern und sich nicht mit irgendwelchen Theorien beschäftigen, die womöglich alles nur noch schlimmer machten. Seit der Beerdigung schlief sie die meiste Zeit, blätterte in Fotoalben oder stierte stumpf vor sich hin. Das verstand ich. Ich musste, was Iris betraf, ohnehin vorsichtig sein. Unser Verhältnis war nicht das beste. Ich konnte nicht einmal sagen, woran das lag. Als Heiko und Iris sich kennengelernt hatten, hatte ich meinen Bruder bereits das eine oder andere Mal mit auf Bergtouren genommen. Wir hatten dabei immer viel Spaß, aber Iris gefiel nicht, was wir taten. Sie hielt es für zu gefährlich. Es war nie etwas passiert, trotzdem redete sie, als sie mit Kathi schwanger wurde, meinem Bruder so lange ins Gewissen, bis er mir verkündete, er könne jetzt nicht mehr mit mir in die Berge gehen. Seine Verantwortung für die Familie ließe das nicht weiter zu. Auch das konnte ich verstehen, die Begründung war ja vernünftig. Ich hatte es Iris nicht übelgenommen – oder vielleicht doch ein bisschen –, aber ich hatte nie wieder versucht, meinen Bruder zu einer Tour zu überreden. Trotzdem behandelte sie mich seitdem, als würde ich ihr den Mann wegnehmen.
Heiko hielt den Blick auf den Boden gerichtet.
«Iris auch, nur im Moment noch nicht. Das ist zu viel für sie», sagte er. Dann sah er mich an. «Aber was hast du vor?»
«Ich würde gern hinauf in Kathis Zimmer.»
«Iris schläft nebenan», wandte Heiko ein.
«Ich werde sie nicht wecken.»
«Und was erwartest du dort zu finden?»
«Das weiß ich nicht, vielleicht finde ich auch gar nichts. Aber ich muss schließlich irgendwo anfangen.»
Heiko zog ein letztes Mal an der Zigarette, warf sie zu Boden und trat mit dem Fuß auf die Kippe. «Gut, geh nur rauf. Du brauchst mich doch nicht dabei, oder?»
Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste, dass er es nicht fertigbringen würde, Kathis Zimmer zu betreten.
«Gut, es ist nicht wegen … ich muss aber hier unten noch aufräumen, du weißt schon.»
«Kein Problem. Ich schaff das allein.»
A nn-Christin verharrte, die Hand auf die Gartenpforte gelegt. Sie drehte sich langsam um und starrte in die Dunkelheit hinter sich. Zwischen den kleinen Lichtinseln der Straßenlaternen schienen Schatten zu huschen.
Hatte sie gerade Schritte gehört?
Sie sah eine Weile hin, konnte aber niemanden entdecken. Sie hasste es, im Dunkeln nach Hause zu kommen, aber heute hatte sie der Filialleiter des Supermarktes, in dem sie ihre Ausbildung machte, gebeten, länger zu bleiben. Das hatte sie nicht ablehnen können.
Diese verfluchte Angst. Kein Tag verging, an dem sie nicht das Gefühl hatte, verfolgt zu werden.
Sie zitterte, drückte die Gartenpforte auf und lief über die Waschbetonplatten auf die Haustür zu. Dort bemerkte sie, dass drinnen kein Licht brannte. Nirgends. Nicht einmal die Funzel neben der Tür.
Merkwürdig, dachte Ann-Christin. Ihre Mutter war kein Mensch, der seine Gewohnheiten änderte. Es war zwanzig Uhr durch, um diese Zeit war sie immer daheim. Sie ging nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr hinaus. Eigentlich ging sie sowieso kaum noch hinaus, nur noch zum Einkaufen und für die regelmäßigen Arztbesuche. Sie lebten hier zusammen wie auf einer einsamen Insel.
Ein rascher Blick auf ihr Smartphone: kein Anruf und keine SMS von ihrer Mutter.
Ann-Christin drückte den Klingelknopf, steckte gleichzeitig den Schlüssel ins Schloss und schob die Tür auf. Das machte sie
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